Bosnien – Eine Reise (03): Ein Familienfriedhof im Wald

Es ist schon ein merkwürdiger Ort, ein kleiner Familienfriedhof mitten im Wald. Man hätte ihn leicht übersehen können, aber wir waren vorgewarnt; informiert von einem Naturpark Ranger, der uns den Wanderweg durch den Kozara Nationalpark detailliert beschrieben hatte.

Also auch den Cemetery.
Ganz in der Nähe des verfallenen Hauses gibt es ein eingezäuntes Grab, dann noch eine Handvoll einzelner Grabsteine. Ein zugewachsener Weg führt dorthin, nur ein Pfad, wie man ihn zum Wandern nutzt, während das Haus selbst mit einem geländegängige Fahrzeug durchaus erreichbar gewesen wäre.
Aber wozu? Niemand lebt dort mehr. „Früher aber“, so hat uns der Ranger erzählt, „haben tatsächlich dort mal Menschen gewohnt.“ Es klingt fast, als könne er es selbst nicht glauben.
Wahrscheinlich sind sie es, die auf dem kleinen Friedhof bestattet wurden. Wer sonst sollte fernab von irgendwelchen Dörfern im Wald seinen letzten Ruheplatz finden?

Im Umkehrschluss aber bedeutet das, dass es in dem Land keine Pflicht gibt, oder zumindest damals nicht gab, seine Toten auf einem offiziellen Friedhof einer Gemeinde oder der Kommune zu bestatten. Oder man hat sich einfach darüber hinweggesetzt und niemanden hat es gestört. Während sich rings um die kleine Begräbnisstätte das Unterholz und Gestrüpp ausgebreitet hat, wurde hier immer der Zugang zumindest teilweise freigeschnitten.

Und so stehen wir plötzlich am Grab von Staka Janovič (so in etwa die transkribierte kyrillische Schrift).
Während sich rings um die kleine Begräbnisstätte das Unterholz und Gestrüpp ausgebreitet hat, wurde hier immer der Zugang zumindest teilweise freigeschnitten. Das Grab selbst wirkt alles andere als verwahrlost. Es muss also Leute geben, die hierher kommen und sich darum kümmern.
In den schweren, schwarzen Stein ist ihr Gesicht eingraviert. Streng schaut sie, streng und bestimmend. Wären ihre von mir zusammen spekulierten Lebensbedingungen andere gewesen, man könnte sie fast eine Patriarchin nennen.

„Unser Leben währet siebzig Jahre, und wenn’s hoch kommt, so sind’s achtzig Jahre, und wenn’s köstlich gewesen ist, so ist es Mühe und Arbeit gewesen; denn es fährt schnell dahin, als flögen wir davon.“ fällt mir spontan ein, ein Bibelspruch (Psalm 90,10), den meine Großmutter wieder und wieder zitierte, oft mit erhobenem, lehrend-mahnendem Zeigefinger. Stakas Leben währte fast 70 Jahre, und ich bin sicher, es war voller Mühe und Arbeit – allerdings ohne allzuviel von der verheißenen Köstlichkeit. Denn die Rückseite ihres Grabsteines zieren mehrere Namen, alle hießen die dort erwähnten auch Jankovič – alle tragen sie männliche Vornamen und alle sind sie in den 20ern geboren und in frühen 40ern gestorben.
Es dürften – so meine Vermutung – damit an ihre Söhne erinnert werden. Sie hat sie alle verloren, alle im Krieg.

Gab es weitere Söhne? Gab es auch Töchter? Wo liegt ihr Mann begraben?
Das Grab wirft Fragen auf, die sich nicht beantworten lassen.
Etwas abseits befinden sich zwei deutlich ältere Gräber, Simo und Mara Jankovič. Gestorben 1939 und 1941. Waren es ihre Eltern? Die Schwiegereltern? So ganz passt das mit den Jahreszahlen nicht zusammen. Aber es ist müßig, weiter zu spekulieren.

Die „Pflöcke“ lassen vermuten, dass es noch mehr Gräber gab oder geben sollte. Hinter den Gräbern sind Bruchstücke ganz offenbar noch älterer, ehemaliger Grabsteine.
Es ist ein interessanter Ort, der kleine Familienfriedhof, ein willkommener kurzer Stopp bei unserer Rundwanderung durch den Nationalpark. Zeit wir ein paar Schluck Wasser, dann geht es weiter.

Staka Janovič hätte sicher viel zu erzählen gehabt. Verstanden hätten wir sie vermutlich aber nicht. Denn hier hätte es sicher Sprachbarrieren gegeben.

Tipp/Info für Nachahmer*innen (eigene Erfahrung, Stand 2023):
Kyrillische Schrift wird in der Republika Srpska viel verwendet. Allerdings überwiegend im privaten Umfeld (z.B eben auf Gräbern). Darüber hinaus sind Ortstafeln und Straßenschilder sowohl in kyrillilscher wie lateinischer Schrift versehen. Was in der Republika Srpska gern mal dazu führt, das Sprayer die lateinischen Buchstaben übersprühen, im bosnischen Teil hingegen sehr oft die kyrillischen unleserlich gemacht werden. Auch eine Art Statement.
Kyrillische Schrift zu lernen ist nicht notwendig. Abgesehen davon unterscheidet sich die Schrift von der in Russland bei einigen Buchstaben, was das Transkribieren nicht gerade einfach macht.
Hinweisschilder, Produkte in den Geschäften, Zapfsäulen an Tankstellen, Speisekarten etc. sind alle in lateinischer Schrift.
Also: Keine Panik vor nicht identifizierbarer Schrift.

Alle Teile:
Ankündigung
01: Banja Luka
02: Kozara Nationalpark
03: Der Familienfriedhof im Wald
04: Jajce
05: Die Mlinčići am Pliva See / Zenica
06: Sarajevo, eine erste Annäherung
07: Sarajevo, Baščaršija
08: Sarajevo, auf dem Trebević
09: Sarajevo, zwei Moscheen
10: Sarajevo, der alte jüdische Friedhof
11: Sarajevo, die einst belagerte Stadt
12: Auf dem Weg in die Herzegowina
13: Mostar, die alte Brücke
14: Mostar, Stadtrundgänge I
15: Mostar, Stadtrundgänge II
16: Blagaj
17: Weiter gen Osten
18: Sutjeska Nationalpark
19: Tjentište, der Außenpool
20: Tjentište, das Theater am Ende der Welt
21: Trebinje
22: Die Bogomilen Nekropole Radimlja
23: Počitelj
24: Studenci, die Kravica Wasserfälle
25: Nordwestwärts
26: Una Nationalpark
Epilog: Nur ein Stuhl?


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