Bosnien – Eine Reise (14): Mostar, Stadtrundgänge I

Es ist eine ganz besondere Szene, die Juli Zeh in ihrem Reiseroman Die Stille ist ein Geräusch schildert, in der sie bei ihrer Bosnien-Reise kurz nach dem Krieg Mostar erreicht. Sie starrt die zerstören Häuser an und empfindet es so, dass diese ihrerseits sie anstarren.
Vor dem Urlaub habe ich dieses Buch gelesen, voller Neugierde, voller Vorfreude. Danach habe ich es wieder zur Hand genommen und ein zweites Mal gelesen. Dieses Mal entschlüsselt sich so vieles, was ich vorher nicht verstanden hatte. Ortsnamen paaren sich nicht nur mit diffusen Vorstellungen auf Basis des Geschriebenen im Kopf sondern mit dem, was wir selbst gesehen und erlebt haben.

Einer der Fragen, die  Juli Zeh ergründen wollte, erklärt sich nach der anderen. Auch wenn zwischen ihrer Reise und unserer 25 Jahre liegen, ist doch mittlerweile geklärt, wie grün die Neretva ist, warum McDonald’s hier nie Fuß fassen konnte, obwohl sie es versucht haben und zwei andere amerikanische FastFood-Ketten sich jetzt anschicken, das vermeintliche Vakuum nun auszufüllen, nachdem McD sich aus dem Land zurückgezogen haben: Burger King und Kentucky Fried Chicken wagen ihr Glück.
Aber gibt es in einem Land, in dem Ćevape im Brot überall angeboten werden, überhaupt ein solches Fastfood Vakuum?
Müßig darüber nachzudenken und auch nicht wichtig. Die großen FastFood-Ketten und ihre Restaurants sind ganz sicher nicht Anlaufstellen während unseres Urlaubs, den Rest regelt der Markt. So heißt es doch so schön.

Offenbar regelt der Markt auch, dass es (nicht nur) in Mostar auch knapp 30 Jahre nach dem Krieg unfassbar viele zerschossene Fassaden gibt, einige Ruinen befinden sich in bester Lage, viel mehr aber in den Randbezirken.
Ich widme dem sehr viele Fotos, aber in der Serie keinen eigenen Beitrag mehr. Meine Gedanken zum Thema Trümmertourismus oder Dark Tourism habe ich bereits hier geäußert.
Auch in Mostar versuche ich, mich behutsam dem Geschehenen zu nähern. Begreifen kann ich es wie bereits gesagt sowieso nicht.
Fotos, die hier entstehen, werden auch im Fensterfreitag gezeigt werden, Fotos von erschossenen Häusern, denen als erstes, wenn sie sterben, die Fenster herausfallen.

Einen Teil dieser Häuser, von denen Juli Zeh einst schrieb, gibt es also immer noch, genauso zerstört wie damals, als sie nach Mostar kam.
Nur sind sie mittlerweile bewachsen von Büschen und Bäumen. Sie werden zusammengehalten und abgestützt von Gerüsten und Stützen, die Grundstücke sind umzäunt, gesichert und verbrettert. Auch die fußballgroßen Granatenlöcher, von denen sie schrieb, sind in den Fassaden noch zu finden. Und nicht nur die – es gibt noch viel Größere.

Sollen die historischen Gebäude jenseits der Altstadt nach und nach wiederaufgebaut werden? Vielleicht ist das der Plan, zumindest wird so die Fassade gerettet, auch wenn sich sonst kein Stein mehr auf dem anderen befindet. Oder ist für den Abriss kein Geld da oder es gibt niemanden, der sich darum kümmert?
anstarren tun einen die Häuser nicht mehr. Ich jedenfalls empfinde das so, als hätten sie es aufgegeben, es hätten sie über die Jahre begriffen, dass es nichts nützt.

Mostar hat mehr als zwei Gesichter, aber das prägendste und bekannteste ist ganz sicher die Altstadt samt der historischen Brücke. Die UNESCO hat das gesamte Ensemble zum Weltkulturerbe erklärt, was es zumindest vor intensiver Bebauung und Modernisierung der Gebäude schützt. Entsprechend pittoresk ist die Altstadt samt Basar, engen Gassen und Moscheen.
Aber sie ist auch vollgestopft mit Bars, Restaurants und Souvenirgeschäften, etwas anderes gibt es eigentlich nicht. Jeder Quadratzentimeter, der noch Platz bietet, wurde mit Tischen und Stühlen für die Gastronomie genutzt. Und irgendwie gleicht ein Restaurant dem anderen. Es fehlen auch nicht die jungen Frauen, die Touristen in dem nicht abreißenden Strom Flyer in die Hand drücken und die Leute motivieren wollen, hier und nicht dort essen zu gehen.
Wäre man gehässig, man könne von einer Rüdesheimer Drosselgasse auf bosnisch sprechen.
Natürlich ist es vollkommen legitim, diesen geldbringenden Industriezweig maximal möglich zu bedienen, natürlich ist das bei der Dichte der Restaurants auch in Ordnung, sich gegenseitig die Gäste abspenstig zu machen, und da die Nachfrage das Angebot bestimmt, ist es auch verständlich, dass der Großteil der Basarhändler identisches Warensortiment anbietet. Das ist in Mostar nicht anders als in Rüdesheim. Das regelt der Markt.
Vieles, was die Läden hier im Sortiment haben, haben wir bereits in Sarajevo im Baščaršija-Viertel gesehen, während es dort in der Altstadt aber noch einige Geschäfte auch für die lokale Bevölkerung gibt, ist hier schlichtweg alles auf die Masse der Urlauber ausgerichtet.

Eine Ausnahme bildet am Rand der Altstadt und Übergang zum neueren Teil der Stadt der Tepa Markt. Hier bieten die Bauern der Region ihr Obst und ihr Gemüse an, darunter wieder Honig in rauen Mengen. Die Herzegowina ist ein Eldorado für Honigliebhaber und solche, die es werden wollen.

Das Café am Markt wird in den Morgenstunden vor allem von älteren Männern frequentiert. Sie lesen Zeitung oder spielen Backgammon. Ich übe mich ein wenig in Street Photography und notiere digital in meinen Spotlights, die ich von der Reise ins Netz stelle: „Alte, weiße Männer – sie machen nicht alles falsch.“

Ein wenig beneide ich die Südeuropäer und die Menschen des Balkans um dieses kulturelle Privileg, ab einem gewissen Alter die Vormittage im Café verbringen zu können. Wer das hierzulande macht, setzt sich, auch als Rentner, dem Verdacht aus, er habe nichts Besseres zu tun, als seine Zeit zu vertrödeln. Der Produktivitäts- und Effizienzwahn des Neoliberalismus lässt das einfach nicht zu, nicht einmal bei Rentnern. Immer heißt es: „Müßiggang ist aller Laster Anfang“. Ach, ist das so?
Ganz nebenbei bemerkt: Zumindest im ländlichen Teil treffen sich Männer bei uns nicht etwa tagsüber im Café zum Backgammonspielen sondern nach Feierabend am Stammtisch zum Politisieren oder Karteln.
Notiz an mich: Ich sollte öfter in den Süden oder auf den Balkan fahren. Café und Zeitung liegen mir weit mehr als jegliche Stammtischkultur.

Markenturnschuhe gibt es auch auf dem Markt. Angeboten werden sie zu unfassbar günstigen Preisen und damit sind sie schnell als Produktfälschung erkannt. So sehr die Verkäuferin sich auch bemüht, mich für die Schuhe zu begeistern, ich winke ab. Markenpiraterie wird ja oft als Kavaliersdelikt angesehen, wenn überhaupt ein Unrechtsbewusstsein dafür vorhanden ist. Wer aber in einer Branche arbeitet, in der es um künstlerisches, kreatives Schaffen geht und die Umsätze letztlich aus der Verwertung von Urheberrechten generiert werden, sollte sich vielleicht im Klaren darüber sein, dass nachgemachte, gefälschte Schuhe von Salomon, Adidas, Nike etc. nicht in Ordnung sind, und wenn sie noch so günstig angeboten werden und das ja niemand sieht oder wissen muss, dass die Treter keine Originale sind.
Nein! Einfach Nein!

Insgesamt wirkt der Basar in Mostar schnell etwas eintönig, es ist eng und gedrängt, es ist ein Geschiebe und Geschubse, wie wohl überall auf der Welt an so exponieren Orten. Und es ist bis spät in den Abend laut. Ein Stimmengewirr, Musikbeschallung in der Gastronomie, Live-Musik von den Bühnen.
Aber es gibt Ausweichflächen. Meist genügt es, einfach nur, eine Straße weiter zu gehen, links oder rechts abzubiegen, um zumindest tagsüber dem Trubel zu entrinnen.
Besonders gefällt mir die Kriva Ćuprija, die schiefe Brücke über den Bach Radobolja:

Wir erfahren, dass die schiefe Brücke älter ist als die alte, sie war quasi das Testmodell, das Baumuster für das ungleich bekanntere, größere Exemplar. Wäre nicht bis spät in den Abend das Wummern der Musik aus der einen Bar, das gegen die Live-Auftritte musikalisch eher spärlich begabter Bands nebenan andröhnt, auch das könnte ein Ort sein, den man nie wieder verlassen möchte.

Dieser alten Stadt steht janusartig das Antlitz der moderneren Stadt und das der Kriegsfassaden gegenüber, von denen eingangs schon die Rede war.
Hierher verirren sich weitaus weniger Touristen, hier gibt es nicht so viel zu sehen, nichts zu shoppen. Was beides nicht stimmt. Also erkunden wir auch den anderen Teil. Denn auch Mostar ist kein Freilichtmuseum, selbst wenn es die Besucher der Stadt vielleicht für eines halten mögen.

Jenseits der Altstadt thront über Mostar die serbisch orthodoxe Kirche der Heiligen Dreifaltigkeit aus dem 19. Jahrhundert. Jenseits der Altstadt befindet sich im kroatischen Teil die neue Kirche Peter und Paul, die einem Franziskanerkloster angeschlossen ist. Zu ihr gehört auch der 107 Meter hohe Glockenturm, der höchste seiner Art in Südosteuropa: Schneller, höher, weiter also auch hier.
Der Turm ist weithin sichtbar, er wird Peace Bell Tower genannt, ist aber, zumindest empfinde ich das so, auch eine deutliche Ansage im permanenten Spannungsverhältnis der katholischen Kroaten und muslimischen Bosnier. Schneller, höher, weiter eben.
Wir verzichten darauf, die Aussicht auf dem Turm zu sehen, ein Aufzug hätte uns auf halbe Höhe gebracht, dann hätten wir aber noch viele Stufen steigen müssen. Es ist zu heiß und zu schwül an diesem Tag. Stattdessen zahlen wir ein paar Mark, um in die kühle Kirche zu gehen.
Eintritt in eine Kirche?
Es ist das gute Recht, der Gemeinde, Eintritt zu verlangen, auch für ein Gotteshaus. In nahezu allen Moscheen wird das auch nicht anders gehandhabt. Das trotzig-pampige „Ich zahle nicht Eintritt für eine Kirche“, wie man es gelegentlich vor allem von deutschen Touristen im Netz liest, hilft hier ebenso wenig weiter wie die Behauptung, man sei ja „nur“ zum Beten oder zur Kontemplation hierhergekommen.
Ich bin mir nicht sicher, ob mir die Gestaltung der Kirche im Innenraum gefällt. Interessant ist sie allemal.
Vielleicht aus dem gefühlten Defizit in den Moscheen heraus, nichts oder zumindest viel zu wenig zu wissen, krame ich all mein Wissen zusammen, um dargestellten Szenen auf den Malereien und Mosaiken zu entschlüsseln. Das gelingt auch so halbwegs, kostet aber dochl Zeit. Und so breche ich dieses Unterfangen  irgendwann ab.

Ich bin ja nicht hier, um altes bibelkundliches Wissen zu rekapitulieren, geschweige denn, damit aufzutrumpfen, bin aber trotzdem zufrieden, auch ohne Hilfe, das Meiste auf den Bildern identifiziert zu haben. Na bitte. Geht doch!

Bis in die Nacht hinein schlendern wir durch Mostar, unterbrochen nur von Abend- und Eisessen, Teepause und einem Radler bei Sonnenuntergang unter der Brücke. Schier unendlich viele Bilder entstehen, sie folgen dem Drang, etwas festhalten zu wollen, von dem man weiß, dass man es nicht wirklich halten kann: Die Schönheit des Augenblicks, der nicht enden soll, des Daseins in all seiner Leichtigkeit – also Phantasien, wie man sie immer dann im Urlaub entwickelt, wenn man möchte, dass er einfach nie enden möge.

Ein weiterer Beitrag über Mostar mit Blick in die Koski Mehmed Pasha Moschee, die wir nicht nur wegen des Gartens mit Brückenblick besucht haben, und das Biscevic Haus befindet sich hier.

Angehängt sind noch weitere Bilder aus Mostar, ein paar Impressionen aus der Altstadt.

Als PS: Die Neretva ist nicht immer und nicht überall grün. Hier ist sie von einem bestechendem Blau.

 

Tipp/Info für Nachahmer*innen (eigene Erfahrung, Stand 2023):
Altstadt, enge Gassen, Innenstadtlage? Das wirft, wenn man mit dem Auto (PKW) unterwegs ist, die Frage auf: Wo parken?
Im Vorfeld hatten wir darauf geachtet, dass die Hotels über Parkplätzt oder Tiefgaragen verfügen. In Banja Luka, Sarajevo und Mostar ließ sich dann auch fast alles zu Fuß erkunden. Hier wäre es mit längerem Parken am Straßenrand sonst auch eher schwierig geworden.
In den anderen Orten war das nicht notwendig.
Parkgebühren werden fast überall erhoben (wie bei uns), meist sind es Automaten und da ist es dann gut, ausreichend Münzgeld zur Hand zu haben. Gelegentlich stehen Menschen am Straßenrand und winken einem auf ihre Innenhöfe, die sie als Parkplätze nutzen und dafür ein paar Mark verlangen. Öffentliche Parkplätze bei Ausflügen zu finden, war nie ein Problem.

Alle Teile:
Ankündigung
01: Banja Luka
02: Kozara Nationalpark
03: Der Familienfriedhof im Wald
04: Jajce
05: Die Mlinčići am Pliva See / Zenica
06: Sarajevo, eine erste Annäherung
07: Sarajevo, Baščaršija
08: Sarajevo, auf dem Trebević
09: Sarajevo, zwei Moscheen
11: Sarajevo, die einst belagerte Stadt
12: Auf dem Weg in die Herzegowina
13: Mostar, die alte Brücke
14: Mostar, Stadtrundgänge I
15: Mostar, Stadtrundgänge II
16: Blagaj
17: Weiter gen Osten
18: Sutjeska Nationalpark
19: Tjentište, der Außenpool
20: Tjentište, das Theater am Ende der Welt
21: Trebinje
22: Die Bogomilen Nekropole Radimlja
23: Počitelj
24: Studenci, die Kravica Wasserfälle
25: Nordwestwärts
26: Una Nationalpark
Epilog: Nur ein Stuhl?


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2 Antworten

  1. Deine Reiseberichte sind unsagbar gut – und die Fotos noch besser. – Wenn nach Jahren wieder Touristen in die Ukraine fahren werden, wird sie ein ähnliches Bild wie in diesen durch einen Krieg so zerstörte Länder – vielleicht noch schlimmer, weil die Russen vielleicht die zerstörenderen Waffen eingesetzt haben.
    Ich habe meiner Tochter, die ja die ganze Gegend seit Jahren in all ihren Ferien radfahrend erkundet, den Link zu der Bosnienreise geschickt – und sie war begeistert.

    • Lutz Prauser sagt:

      Vielen Dank für das tolle Kompliment. Es freut mich sehr, dass diese doch sehr lange Reihe mit etwas umfangreicheren Texten Stammleserinnen und -Leser findet.
      Ja, ich denke auch, dass unsere Kinder oder wahrscheinlicher Enkel 30 Jahre nach dem Krieg in der Ukraine ähnliche Beobachtungen machen werden, falls sie das Land bereisen sollten.
      Ich dann sicher nicht mehr.

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