Bosnien – Eine Reise (07): Sarajevo, Baščaršija

Baščaršija – vielleicht verdichten sich letzten Endes die ganze Reise, alle Eindrücke und Erlebnisse, alle Erwartungen und Sehnsüchte zuvor auf diesen Stadtteil Sarajevos.

Vielleicht ist das der Kristallisationspunkt, das Zentrum. Denn dieser alte, muslimisch geprägte Stadtteil ist eine ganz eigene Welt: Eine zauberhafte, faszinierende, fremde und äußerst begeisternde. Man kommt schwerlich aus dem Schwärmen wieder heraus.
Und in Baščaršija ist es der Sebilji, an dem buchstäblich alles zuammenläuft, ein Brunnen aus dem ausgehenden 19. Jahrhundert, im Stil eines Kiosks errichtet zur Habsburger Zeit. Ein Sprichwort, so lese ich, sagt, wer daraus trinkt, wird Sarajevo wieder besuchen kommen.

Der Brunnen steht am Nordende eines Platzes, der von Cafés und Restaurants gesäumt ist. Hier treffen sich Einheimische und Touristen, hier schlägt das Herz Baščaršijas, hier beginnt der Basar, der sich durch die Gassen der Altstadt zieht.
Unzählige Tauben werden von Kindern gefüttert, deren Eltern ein Säckchen Futter bei einem der Händler gekauft haben. In Gruppen lassen sich Reisender dort fotografieren oder machen Selfies.

Zu Füßen des Brunnens sitzt ein Straßenmusikant und spielt ein Instrument, das an ein Hackbrett oder eine Zimbal erinnert. Ich nehme mir vor, ihn bei einer Pause zu fragen, aber dazu kommt es nicht. Denn er macht keine Pause. Er ist umringt von Menschen, zwei Amerikanerinnen wagen ein öffentliches Tänzchen zu seiner Musik, begeistert beklatscht von den anderen.
Irgendwann später, als wir noch einmal am Brunnen vorbei kommen, ist es etwas ruhiger, er spielt Bella Ciao, was ihm sofort zwei Mark aus meinem Portemonnaie einbringt.

Tags drauf sitzen wir in der Nähe des Brunnens bei türkischem Tee, beobachten das Treiben, wieder ist der Musiker da, dieses Mal allerdings mehr mit seinem Telefon als mit seinem Instrument beschäftigt. So ergibt es sich nicht, dass ich in Erfahrung bringe, wie genau das Instrument nun in der Landessprache heißt.
Ein Kellner echauffiert sich über Gäste, die aufgestanden sind, ohne bezahlt zu haben. Als er ihnen hinterher springt, informieren diese ihn, dass die das Geld auf den Tisch gelegt haben. So geht das aber hier nun mal nicht.
Unflätiges ruft er ihnen hinterher, beschimpft sie dann auch auf englisch, damit nur ja all die internationalen Gäste mitbekommen, wie sauer er ist. „Kosovo Serben!“ flucht er – und wieder ist man unvermittelt mit den tiefen Rissen im Land konfrontiert.
Später wird er uns erzählen, als wir ins Gespräch kommen, dass seine Familie aus Srebrencia stammt,  während des Krieges geflohen ist, die Eltern in Deutschland leben (In Hagen!) und er eine Frau hat, die in München ist. Er hat erkannt, dass wir Deutsche sind, dass wir selbst aus der Münchner Gegend kommen und ursprünglich zumindest ich aus Hagen stamme, bleibt besser unerwähnt. Es ist nicht das, über was ich mich mit dem Mann gern unterhalten möchte.
Er, so erzählt er weiter, wollte immer zurück nach Bosnien – und so kellnert er jetzt eben in Sarajevo. Dann setzt er den unterbrochenen Videocall mit seiner Frau fort.

Baščaršija durchstreifen wir öfter, immer wieder zieht es uns in den Basar: Zum Abendessen, für ein Kaltgetränk, für einen Kaffee oder einen Tee, für Mitbringsel.
Es sind ja auch nur wenige Schritte vom Hotel über den Fluss, gern auch über die Brücke, in dessen unmittelbarer Nähe des Ortes, an dem 1914 der österreichische Thronfolger einem Attentat zum Opfer fiel.
Ein kleines Museum befindet sich dort, Fußabdrücke auf dem Boden markieren den Ort, an dem der Täter stand. Heute lassen sich gern Touristen dort fotografieren. Einmal steht ein Fahrzeug vor dem Museum. Ob nun das Original oder ein Nachbau – ich weiß es nicht. Da gerade unter Polizeischutz eine japanische Delegation eingetroffen ist, bleibe ich auf Abstand, sehe nur, wie einer der Japaner sich auf die Fußleiste des Fahrzeugs stellt, sich mit der einen Hand an der Tür hält und den anderen Arm zum Hitlergruß ausstreckt. Dabei lässt er sich von den anderen fotografieren.
Geschichtsbewusstsein und Sensibilität sehen meiner Meinung nach anders aus.
Vielleicht ist das aber auch nur mein persönliches Problem einer Überempfindlichkeit oder ich habe die Geste falsch interpretiert.

Anders als bei der alten, bettelnden Frau und auch anders als bei den Touristen habe ich meine Kamera nicht auf die Japaner gerichtet. Es hätte sich auch nicht gelohnt.
Lieber lege ich im Café die Kamera schussbereit vor mich auf den Tisch und warte, wer mir so ins Bild läuft.
Denn ein unmittelbarer „Schuss“ in die Menge kann, selbst wenn man nur das Treiben in den Gassen fotografieren will, schon mal zu Gemecker führen. So schnauzt mich einer auf englisch an, wie ich dazu käme, ihn zu fotografieren. Dabei habe ich ihn nicht mal ins Visier genommen, er ist mir einfach ins Bild gelaufen, das am Ende sogar noch unscharf ist und gleich wieder gelöscht wurde. So, als ob nicht Tausende von Touristen überall im Viertel vor lauter Begeisterung Fotos machen… Das ist vielleicht ein wenig das Schicksal der Einwohner, wenn sie sich an solch exponierten Orten aufhalten, dass sie nun auch mal mitfotografiert werden.

Immer wieder führt uns der Weg an kleinen Geschäften vorbei. Viele Souvenirs werden angeboten, Kitsch und Krempel, Kram und Künstliches. Aber eben auch Köstliches, Kurioses und Komisches. Bisweilen zuckt die Kamera wenn ich mich nicht im Blick der Eigentümer der Lädchen wähne. Die nämlich wollen ihre Ware verkaufen und nicht fotografiert wissen, was ich auch verstehen kann. Im Morića Han zum Beispiel, einem alten Gasthaus, in dem im ersten Stock die Zimmer und unten ebenerdig die Unterbringung für die Pferde war, ist Fotografieren ausdrücklich verboten. Das gilt es dann auch zu respektieren.
Um gar nicht erst in Diskussionen zu kommen, verschwindet die Kamera zeitweilig im Rucksack, bevor wir den Han betreten. Heute werden in dem Hof allerlei Kunsthandwerk feilgeboten, während die ehemaligen Übernachtungszimmer im Obergeschoss mittlerweile zu Büros umgewandelt wurden.
Ich erliege dieses Mal auch nicht der Versuchung, heimlich zu versuchen, Fotos zu machen. Es fällt nicht mal besonders schwer, weil es einfach zu viele Leute drum herum gibt, die das bemerken könnten. Und weil es einfach auch keine Notwendigkeit gibt, sich über das Fotografierverbot hiwegzusetzen.


Ein paar Meter weiter lockt das Gazi Husrev-beg’s Bezistan „Einkaufstentrum“, was vorsichtig formuliert, die Sache nicht richtig trifft. Es ist weniger ein Einkaufszentrum als eine Ladengalerie, eine ehemalige Markthalle, in der zwar auch überwiegend Waren für Touristen angeboten werden, aber das Ganze hat einen ganz besonderen Flair.

Wohltuende Ruhe vom Trubel im Basar finden wir schräg gegenüber, dem Gazi Husrev-beg’s Museum. Wir sind die einzigen Besucher, die sich über Leben und Wirken von Gazi Husrev-beg (1480-1541) informieren, einem Bey, der zur Osmanenzeit in Sarajevo für zahlreiche Bauwerke verantwortlich zeichnete, so eine nach ihm benannte Moschee (die ich hier zeige), eine Schule, den Uhrenturm der Stadt, ein Krankenhaus und eben auch diese Halle. Denn Gazi Husrev-beg wollte Sarajevo zu einer Handelsmetropole ausbauen…

was ihm angesichts dessen, was sich im Basar abspielt und dort verkauft wird, auch gelungen ist:

Wie viele der in der Baščaršija angebotenen Waren tatsächlich aus Bosnien und Herzegowina stammen, wie viele davon für den Verkauf aus der Türkei oder von noch weiter aus Fernost stammen – wer kann das wissen?
Aber in Venedig fragt auch niemand danach.

PS: Aus dem Seblij haben wir nicht getrunken – wiederkommen möchten wir trotzdem. Ich denke, das dürfen wir

Tipp/Info für Nachahmer*innen (eigene Erfahrung, Stand 2023):
Freundlich und höflich wird man überall in den Restaurants, Bars und Cafés bedient. Schnell kommt wer und fragt, was man möchte. Schnell werden auch Essen und Trinken serviert. Und dann hat man seine Ruhe. Will sagen: Man könnte ewig dort sitzen, gelegentlich kommt wer und fragt, ob alles passt, aber niemand nötigt einen zu zahlen und zu gehen, weil dann der Tisch noch mal verkauft werden könnte. Zumindest war das unser Eindruck.
Wenn’s in Bars oder Cafés ans Bezahlen geht, hat sich bewährt, aufzustehen, hineinzugehen und zu bezahlen. Viele machen das.  In Restaurants ist das natürlich nicht so.
Es könnte in den Cafés sonst nämlich sein, dass man sehr lange am Platz warten muss. Was gar nicht geht: Geld auf den Tisch legen und einfach gehen.
Trinkgeld wird erwartet und sehr gerne angenommen.

Alle Teile:
Ankündigung
01: Banja Luka
02: Kozara Nationalpark
03: Der Familienfriedhof im Wald
04: Jajce
05: Die Mlinčići am Pliva See / Zenica
06: Sarajevo, eine erste Annäherung
07: Sarajevo, Baščaršija
08: Sarajevo, auf dem Trebević
09: Sarajevo, zwei Moscheen
10: Sarajevo, der alte jüdische Friedhof
11: Sarajevo, die einst belagerte Stadt
12: Auf dem Weg in die Herzegowina
13: Mostar, die alte Brücke
14: Mostar, Stadtrundgänge I
15: Mostar, Stadtrundgänge II
16: Blagaj
17: Weiter gen Osten
18: Sutjeska Nationalpark
19: Tjentište, der Außenpool
20: Tjentište, das Theater am Ende der Welt
21: Trebinje
22: Die Bogomilen Nekropole Radimlja
23: Počitelj
24: Studenci, die Kravica Wasserfälle
25: Nordwestwärts
26: Una Nationalpark
Epilog: Nur ein Stuhl?


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