Bosnien – Eine Reise (10): Sarajevo, der jüdische Friedhof

Nein, ich wusste es nicht. Es war eine große Überraschung, im Reiseführer zu lesen, dass in Sarajevo der zweitgrößte jüdische Friedhof Europas beheimatet ist. Der Fläche nach ist es sogar der Größte, mehr als doppelt so groß wie der berühmte Prager jüdische Friedhof. Dort aber fanden weitaus mehr Menschen ihre letzte Ruhe. Und wenn das das Maß des Vergleichs ist, dann ist der Prager jüdische Friedhof der Größere – der weitaus bekanntere und mit viel mehr Besuchern ist er sowieso.


Um zu verstehen, wieso sich auch in Sarajevo ein solch großer jüdischer Friedhof befindet, muss man weit in die Geschichte zurückblättern, konkret bis ins 15. Jahrhundert.
Die Ansiedlung und Gemeindegründung der Juden auf dem Balkan ist die Folge der Flucht sephardischer Juden aus Spanien während der  Reconquista. Die spanisch katholische Rückeroberung der iberischen Halbinsel und die Verdrängung der muslimischen Herrschaft, die 1492 mit der Einnahme Granadas durch den kastilischen König ihr Ende fand, hatte für die dortige jüdische Bevölkerung weitreichende Folgen.


Das sephardische Judentum, das sich unter der muslimischen Herrschaft in Spanien großer Toleranz erfreuen konnte, wurde vor die Wahl gestellt, sich entweder taufen zu lassen oder das Land zu verlassen. Ansonsten drohte ihnen der Tod.

Was hat das mit Bosnien zu tun?

Ein Teil der jüdischen Bevölkerung zog nach Nordafrika in den Bereich des Maghreb, ein anderer siedelte sich auf dem Balkan an, vor allem zwischen Sarajevo und Thessaloniki im islamisch-osmanischen Herrschaftsgebiet. So kam es zu vielen Gründungen sephardischer Gemeinden, die mit der Zeit immer größer wurden. Daran änderte auch nichts die Zerschlagung der osmanischen Macht und die Okkupation Österreich-Ungarns. Eher im Gegenteil – nun strömten weitere Juden ins Land, dieses Mal die aschkenasischen. So finden sich viele Namen auf den Gräbern auch auf deutsch.


Ein jähes und schreckliches Ende nahmen die jüdischen Gemeinden in Bosnien und Herzegowina im Zweiten Weltkrieg, als die Nationalsozialisten das Königreich Jugoslawien besetzen. Wie überall wurde die jüdische Bevölkerung in großer Zahl verschleppt und in den Konzentrationslagern ermordet.


Nie wieder haben sich die Gemeinden davon erholt, wie auch?
Heute gibt es in Sarajevo jüdisches Leben: Neben dem Friedhof und einem Jüdisches Museum  gibt es eine große aschkenasische Synagoge, die im Zweiten Weltkrieg zerstört, aber wieder errichtet wurde.  Sie steht auf meinem Merkzettel zu besichtigender Orte, wenn wir die Stadt noch einmal besuchen. Sofern man es überhaupt kann.


Anders als der Prager Friedhof ist der in Sarajevo frei zugänglich, aber nahezu niemand macht Gebrauch davon. Zumindest während unseres Besuches sind wir nahezu die Einzigen.
Ein anderer Tourist taucht irgendwann auf. Er hat die unangenehme Eigenschaft, mir auf Schritt und Tritt zu folgen und exakt das gleiche, was ich fotografiere, anschließend auch zu fotografieren. Ganz offensichtlich und völlig ohne irgendeine Scham des Nachmachens.
Irgendwann nervt das. Irgendwann fotografiere ich ihn einfach mit.

Es ist ja nicht so, als ob nicht jeder genug Impulse und Inspirationen für eigene Fotos auf dem Gelände finden könnte. Ich jedenfalls könnte mich hier stundenlang aufhalten und hunderte Fotos dort machen. Schon allein, weil es auch witterungsmäßig eine ganz eigenartige Stimmung ist. Vor kurzem hat es heftig gewittert, die Luft ist klar, der Himmel hingegen trüb. Mal blitzt die Sonne durch und lässt alles leuchten, dann wieder unter den Bäumen im Schatten, wirkt alles wie entsättigt.

Es fällt schwer, sich zu zügeln und nicht einem hemmungslosen Fotorausch zu erliegen und weiter und weiter in alle Ecken des Friedhofs vorzudringen. Es ist eben nur nicht fair, meine Frau so lange warten zu lassen, bis ich meine, wirklich alles gesehen zu haben, was es möglichweise zu sehen und zu fotografieren geben könnte. Ohnehin bewundere ich ihre Geduld, wenn ich die Kamera mitschleppe – und das mache ich meistens.

Als der Friedhofs-„Stalker“ plötzlich direkt neben mit vor einem auf Deutsch beschrifteten Grabstein steht, frage ich ihn auf englisch, ob er die Inschrift denn lesen könne. Er bestätigt, gibt sich als deutschkundig zu erkennen, was mit seinen Trekkingsandalen am Fuß korresondiert. Ich hätte es wissen müssen. Er liest mir vor, was ich selbst längst gelesen habe; falsch allerdings, denn mit der alten Frakturschrift hat er große Probleme.
„And the last line?“ frage ich, längst ahnend, dass Počivali u miru! wohl Ruhe in Frieden heißt. „Mir“, so viel ist mir bekannt, ist das russische Wort für Frieden, da wird das bosnische miru wohl nichts anderes bedeuten. Die Sprachen sind ja verwandt.
Das aber weiß er nicht. Ich verabschiede mich und gehe, ohne dass ich den Stein von Ernestine Landau fotografiert hätte. Also tut er es auch nicht. So entgeht ihm ein gutes Motiv – mir nicht, denn ich hole das Bild nach, als er endlich weg ist.

Der Friedhof befindet sich am Fuß des Trebević die Gräber sind alle längs zum Hang angelegt, damit mehr oder weniger nach Norden und nicht Richtung Jerusalem ausgerichtet. Das aber verhindert, dass sie bei Regen oder Schneeschmelze irgendwann vielleicht unterspült werden und mitsamt dem Hang abrutschen.


Nur Trampelpfade führen durch das hohe, gewitterregennasse Gras. Da der Friedhof schon lange nicht mehr in Betrieb ist bzw. keine Toten dort mehr bestattet werden und das touristische Interesse offenbar eher gering ist, verirrt sich hier kaum jemand her – möglichweise auch, weil kaum jemand weiß, dass es ihn gibt. Also gibt es auch kein klares Wegenetz.
Überwachsene Stufen führen hinauf zu einem Denkmal für die Toten der Nazizeit. Unvermittelt holt einen auch hier der Krieg von vor 30 Jahren wieder ein. Der Friedhof lag zwischen den Fronten der belagerten Stadt und den Stellungen der serbischen Armee am Hang. Demzufolge war er massiv unter Beschuss.

Zahlreiche Grabsteine weisen Schussspuren und Granatentreffer auf. Die Schäden wurden nicht behoben, Steine nicht erneuert, nicht einmal das Mahnmal. Wer hätte sich auch darum kümmern sollen?
Vermint war der Friedhof auch, doch wurden die Minen schon wenige Jahre nach Ende des Krieges geräumt. Wenigstens etwas.


Das dreiteilige, geschwungene Eingangstor stammt aus dem Jahr 1922 (nach jüdischer Zählung 5682).

Unterhalb des Friedhofs befindet ich ein kleiner Sakralbau mit einem Davidstern auf dem Dach.

Wer etwas auf sich hielt und über das nötige Geld verfügte, dessen Grab lag sehr nah an der Synagoge und war entsprechend prächtig. In der ersten Reihe liegt man wohl besser. Als käme es darauf an…


Zwei Nebelkrähen haben links und rechts auf den oberen Zacken des Sterns auf dem Dach Platz genommen. Ein dritter Vogel will landen, es wird ihm verwehrt. Selten fand ich ein Bild so passend als Allegorie für Bosnien und Herzegowina wie dieses.
Raten Sie mal, wem wohl dieses Motiv entgangen ist? Mir jedenfalls nicht.

Tipp/Info für Nachahmer*innen (eigene Erfahrung, Stand 2023):
Gute Planung ist bei einer Rundreise hilfreich, das geht natürlich ein wenig auf Kosten der Spontanität. Die grobe Reiseroute stand im Vorfeld bereits fest, ebenso waren alle Hotels mit kurzen Stornofristen gebucht, falls wir hätten das eine oder Andere ändern wollen. Was wir aber nicht getan haben. Was wir letztlich vor Ort alles gemacht haben, haben wir größtenteils erst kurzfristig entschieden.
Gut war, dass meine Frau die Tour noch einmal entschlackt und entschleunigt hat. Manchmal ist weniger mehr und lässt Lücken zum Entspannen, denn so richtig körperlich erholsam ist ein solcher Urlaub nicht. In Sarajevo hätte es gern noch ein oder zwei Tage mehr gebraucht, aber das wäre zu Lasten anderer Städte gegangen. Und von allen Zielen ist es wohl am einfachsten, Sarajevo noch einmal für ein verlängertes Wochenende zu besuchen, um das Versäumte nachzuholen, z.B. Museen zu besuchen.

Alle Teile:
Ankündigung

01: Banja Luka
02: Kozara Nationalpark
03: Der Familienfriedhof im Wald
04: Jajce
05: Die Mlinčići am Pliva See / Zenica
06: Sarajevo, eine erste Annäherung
07: Sarajevo, Baščaršija
08: Sarajevo, auf dem Trebević
09: Sarajevo, zwei Moscheen
10: Sarajevo, der alte jüdische Friedhof
11: Sarajevo, die einst belagerte Stadt
12: Auf dem Weg in die Herzegowina
13: Mostar, die alte Brücke
14: Mostar, Stadtrundgänge I
15: Mostar, Stadtrundgänge II
16: Blagaj
17: Weiter gen Osten
18: Sutjeska Nationalpark
19: Tjentište, der Außenpool
20: Tjentište, das Theater am Ende der Welt
21: Trebinje
22: Die Bogomilen Nekropole Radimlja
23: Počitelj
24: Studenci, die Kravica Wasserfälle
25: Nordwestwärts
26: Una Nationalpark
Epilog: Nur ein Stuhl?


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