Bosnien – Eine Reise (20): Tjentište, das Theater am Ende der Welt

Nein, Tjentište ist natürlich nicht am Ende der Welt, demzufolge befindet sich auch das dortige Theater nicht am Ende der Welt. Am Ende aber ist es trotzdem – und zwar vollkommen.
Unweit des Hotels Mladost befindet sich eine Ruine, ein augenscheinlich relativ neuer Bau, zumindest, wenn man bei Ruinen irgendwelche Reste einer mittelalterlichen Burg vor Augen hat. Das Bauwerk ist vielleicht 50 Jahre alt, vielleicht etwas mehr, vielleicht etwas weniger. Es ist ein klassischer Lost Place, der unweit des Hotels steht und der sofort meine Neugier weckt.
Da das Gebäude weder umzäunt noch die Zugänge verbrettert sind oder Schilder auf ein Betretungsverbot hinweisen, spaziere ich abends, bevor es am nächsten Tag weiter geht, dort noch einmal vorbei.

Das Hotel auf der einen und der Außenpool auf der anderen Seite begrenzen eine große Erholungsanlage, zu der auch ein Campingplatz samt Sanitärgebäude und ein paar andere Häuser, deren Nutzung mir nicht so wirklich erschließt, gehören.
Das Ganze stammt aus jugoslawisch-sozialistischer Zeit. Hier war wohl mal ein Urlaubsresort für verdiente Bürgerinnen und Bürger der Staates, so mutet es zumindest an. Es ist unweit des Heldendenkmals, das man dann gleich mitbesuchen konnte, gelegen, ansonsten diente es wohl mehr der sportlichen Ertüchtigung und zur Erholung in der frischen, sauberen Bergluft.
Nun brauchte es seinerzeit im einstigen Middle of Nowhere vermutlich noch attraktive Angebote für die Abendgestaltung jugoslawischer erholungssuchender Familien. Was also lag näher als ein kleines Theater zu errichten, das perfekt für Bühnenstücke, Revues, vielleicht auch den einen oder anderen Film, möglicherweise auch für Vorträge nutzbar wäre? Es gab ja hier sonst nichts außer Gegend. Davon aber jede Menge.

Also ist das Gemäuer da, was man gemeinhin als Volksbildungsheim bezeichnen würde, so male ich es in meiner Phantasie aus. Ich stelle mir vor, wie seinerzeit die Sommerfrischler in den Bergen abends mit subversiv-manipulativer aber doch linientreuer Unterhaltung bei der Stange gehalten wurden.
Das alles ist natürlich alles Spekulation.
Aber dass es ein Theaterbau war, ist offensichtlich. Das erschließt sich allerdings erst beim Gang durch das Gebäude. Von außen war das nicht unbedingt zu erkennen, zumal der Bau gar nicht besonders groß wirkt. Diverse Lagerräume und Toiletten befanden sich im Souterrain, heute sind sie vermüllt und dienen als Lagerplatz für offenbar nicht mehr gebrauchtes Bauholz.
Im Erdgeschoss befanden sich Foyer, Zuschauerraum, Bühne und ein Hinterbühnenraum, der gleichzeitig zur anderen Seite geöffnet werden konnte, so dass sich dort ein kleiner amphitheatrischer Open-Air Bereich befand. Der treppenförmiger Halbkreis für die Zuschauer ist noch zu erkennen.
Im ersten Stock über dem Foyer gab es noch einen großen Raum, vielleicht eine Bar, vielleicht ein VIP Bereich, keine Ahnung und dann im Dachgeschoss ein kleiner Technikraum mit winzigen Blickfenstern über den Zuschauersaal. Hier würden im Kinobetrieb die Projektoren stehen, hier hätte der Vorführer sein Reich.
Das alles ist eingefallen, die Decke eingestürzt, es steht nur noch das pure Gerippe, Teile des Dachs, das wohl aus Blech bestand, liegen im Foyer auf der Erde. Das blanke, rostige Metallgerüst des Dachs ragt in den Himmel.
Es sieht nicht danach aus, als sei das Gebäude ein Opfer des Krieges gewesen, beschossen, mit Granaten angegriffen, zerbombt. Das würde man sofort an den Fassaden erkennen. Es sieht eher so aus, als sei es irgendwann einfach sich selbst und seinem Zerfall überlassen worden.
Die Wände sind mit Graffitis verziert, einige sind in sehr gutem Zustand, das lässt vermuten, dass sie noch nicht besonders alt sind. Ich verstehe den Kontext nicht, nicht die Botschaft, ich kann nur sagen, ob sie mir gefallen oder nicht. Viele leuchten förmlich auf dem tristen Grau der blanken Betonwände, von denen der Putz längst heruntergebrochen ist.

Irgendwie rührend ist der Vorhangzug und die Aufhängung vor der Bühne. Noch immer hängen die verrosteten Vorhanghaken daran. Sie sind so klein und zierlich, dass ich mir kaum vorstellen kann, dass hier ein Bühnenvorhang aus schwerem Stoff gehangen hat. Den Haken würde ich gerade mal einen Duschvorhang anvertrauen.


Aber wer kann das letztlich wissen?
Vieles ist am Ende der Welt möglich.

Weitere Bilder von diesem Lost Place sehen Sie in dieser Galerie. Es wären zu viele, um sie einzeln in den Beitrag einzufügen und es ist ohnehin nur ein Bruchstück, eine kleine Auswahl aus den Fotos, die ich vor Ort gemacht habe.

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Tipp/Info für Nachahmer*innen (eigene Erfahrung, Stand 2023):
Bosnien und Herzegowina ist ein Eldorado für urban explorers wie auch für Fans von Lost Place. Das ist keine Überraschung. Wer sich für Lost Places interessiert, findet hier reichlich verlassene Bauwerke Es gelten natürlich auch hier die allgemeinen Verhaltensregeln für solche Orte, die auch auf mögliche Gefahren von, an und in Lost Places hinweisen. Hier zum Beispiel steht eine Zusammenstellung wichtigster Regeln. Es liegt an jedem selbst, ob und in wie weit er diese Regeln einhält oder eben nicht. Bei vielen Lost Places ist das neben ein paar generellen Regeln auch sehr einzelfallabhängig. Dieses eingefallene Theater zu betreten, dort zu fotografieren und die Bilder hier zu zeigen, halte ich persönlich für unproblematisch – auch zu verraten, wo das ist. Wenn 80.000 Musikfans das Tal stürmen, werden möglicherweise ein oder zwei Leute, die sich von meinem Blog inspirieren lassen, dort vorbei zu schauen, wohl kaum einen Run auslösen und Chaos im Tal verursachen.
Was ich aber zum Beispiel ganz sicher nicht machen würde ist, am Straßenrand anzuhalten und die vielen Kriegsruinen aufzusuchen um dabei möglicherweise von Nachbarn angeherrscht zu werden. Auch wenn es endlos viele verlassene Häuser gibt: Irgendwem gehören sie, es ist Privateigentum.
Da muss dann ein panoramafreies Bild von der Straße aus aufgenommen reichen. Und selbst dann finde ich es problematisch, einfach die Kamera auf ein fremdes Haus zu richten. Wenn schon der Schäfer meckert, nur weil ich seine Tiere fotografieren will…

Alle Teile:
Ankündigung
01: Banja Luka
02: Kozara Nationalpark
03: Der Familienfriedhof im Wald
04: Jajce
05: Die Mlinčići am Pliva See / Zenica
06: Sarajevo, eine erste Annäherung
07: Sarajevo, Baščaršija
08: Sarajevo, auf dem Trebević
09: Sarajevo, zwei Moscheen
11: Sarajevo, die einst belagerte Stadt
12: Auf dem Weg in die Herzegowina
13: Mostar, die alte Brücke
14: Mostar, Stadtrundgänge I
15: Mostar, Stadtrundgänge II
16: Blagaj
17: Weiter gen Osten
18: Sutjeska Nationalpark
19: Tjentište, der Außenpool
20: Tjentište, das Theater am Ende der Welt
21: Trebinje
22: Die Bogomilen Nekropole Radimlja
23: Počitelj
24: Studenci, die Kravica Wasserfälle
25: Nordwestwärts
26: Una Nationalpark
Epilog: Nur ein Stuhl?


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