Bosnien – Eine Reise (15): Mostar, Stadtrundgänge II

Eine Frau steht Nachmittags in einer noch nicht geöffneten Bar am Fenster. Brot wirft sie heraus. Für wen auch immer, denn das Brot landet in einem kleinen Bach, bei dem ich mir nur schwerlich vorstellen kann, dass Fische darin leben, zumindest keine, die diese Brotstücke bewältigen könnten. Auch Wasservögel gibt es nicht (erwähnte ich schon, wie unsinnig es ist, Wasservögel mit Brot zu füttern?)
Sie schaut bei ihrer monotonen Bewegung, wenn sie ein Brotstück nach dem anderen aus der Plastiktüte holt, es zerreißt und die Brocken hinunter wirft, mächtig gelangweilt aus.
Fern von dieser Welt – oder doch ganz da?

Ich schaue ihr durch das Kameraauge von der Terrasse unseres Hotels zu. Vor mir steht ein Glas Wein, ein Riesling aus lokalem Anbau, gut gekühlt, so dass Wasser außen am Glas kondensiert. Wieder fliegt ein Stück Brot. Und wieder und wieder. Es gibt so vieles, was ich in diesem Land nicht verstehe.
Und es gibt so vieles, was mich in diesem Land überrascht.

Von der jüdischen Kultur sprach ich bereits, ich hätte durch Juli Zehs Buch ebenso darauf vorbereitet sein können wie durch einen Beitrag auf Arte, in dem auch ein Rabbiner zu Wort kommt. Und doch war es das Letzte (na ja, nicht ganz), was ich hier erwartet hatte.
Spuren davon finden wir nicht nur in Sarajevo sondern auch in Mostar, manchmal stolpert man förmlich darüber: Ein unbebautes bzw. einst bebautes Grundstück war einst Ort der Synagoge. Nur noch ein rostiger Zaun, in den eine Menroah eingearbeitet ist, ein Gedenkstein und ein paar alte Mauern zeugen davon, aber ein Schild kündigt einen Wiederaufbau an. Wird das passieren? Wann? Für wen?
Gibt es noch eine jüdische Gemeinde in Mostar oder gibt es wieder eine?

Nahe der Karađozbegova Moschee in der Ulice Braće Fejića stoße ich wieder auf einen muslimischen Friedhof. Auch dieser neu und jung, auch hier findet sich eine Ansammlung aus weißen Stelen, dazwischen ein paar Grabsteine in Blütenform. Hier sind die Gräber eingefasst, voneinander abgegrenzt.

Ich stehe am Zaun, richte mein Objektiv durch die Stäbe und mache Fotos. Betreten möchte ich den Friedhof nicht.
Wie in Sarajevo fällt als allererstes ins Auge, dass die Gräber alle aus den Jahren 1993 bis 1994 stammen, womit klar ist, dass es auch wieder die Opfer des Krieges ihre letzte Ruhe gefunden haben.
Meine Kamera bleibt „hängen“ an der Stele eines Kindes, das im Alter von 13 Jahren gestorben ist, auf dem Stein ein Bild.
Ich werde nicht ganz schlau aus dem Namen: Idrizović identifiziere ich als Nachnamen, Miralema als weiblichen, Admir und die Kurzform Ado hingegen als männlichen.
Noch während ich darüber nachsinne, komme von der Seite her eine sehr alte Frau auf mich zu. Sie geht ganz nah am Zaun entlang und ich bemerke, dass  ich ihr im Weg stehe, sollte sie keinen Bogen um ich machen. Einen Bogen aber macht sie nicht, sie verlangsamt nicht mal ihren Schritt. Sie würde mich buchstäblich über den Haufen rennen, wenn ich nicht zwei drei Schritte zurückweiche und ihr Platz mache.
Lasse ich es darauf ankommen?
Natürlich nicht.
Ich gehe zur Seite, damit die Alte ihren Weg fortsetzen kann. Sie würdigt mich dabei nicht mal eines Blickes, nickt nicht mit dem Kopf als Zeichen des Dankes, dass ich Platz gemacht habe. Sie geht unbeirrt einfach weiter.
Sagte ich schon, dass es so vieles in diesem Land gibt, das ich nicht verstehe?

Am Ufer der Neretva steht auch die Koski Mehmed-pašina džamija, die Koski Mehmed Pascha Moschee. Sie wirbt mit einem ganz besonderem „Add on“, nämlich einem hervorragenden, malerischen Blick auf die alte Brücke direkt aus dem Garten der Moschee.
Das ist keine große Überraschung, denn im Gegenzug hat man von der Brücke aus ebenfalls einen ganz hervorragenden Blick auf die kleine Moschee aus dem 17. Jahrhundert.
Einen Blick, den ich tags und dann noch einmal nachts als veritables Fotomotiv ansehe und entsprechend viele Bilder mache.

Nun bräuchte es gar nicht unbedingt dieses zusätzlichen Arguments, einen Blick auf die Brücke zu werfen, um die Moschee zu besuchen, die (keine Überraschung) ebenfalls Eintritt kostet, denn nur dann darf man hinein ins Gotteshaus, nur dann darf man auch hinein in den Garten und die Brücke bestaunen, fotografieren oder diese als Selfiekulisse für Bilder von sich selbst nutzen.

Was aber nur wenige tun. Von dieser Möglichkeit aber machen in der Zeit, in der wir dort sind, nur drei vier Leute Gebrauch, uns mitgezählt. Zwar spült der Touristenstom immer wieder Menschen in großer Zahl in den Innenhof, was es einigermaßen erschwert, den Brunnen zur rituellen Waschung allein aufs Bild zu bekommen, die Moschee selbst betreten aber nur Wenige. Ein schneller Blick auf die Angebote bei den Händlern (am Tempel?) und die Leute ziehen von dannen.
Dabei lohnt es sich unbedingt, die Moschee auch von innen zu sehen.
Sie ist einfach bezaubernd. Schade, dass sich nur so wenige Besucher dafür interessieren. Andererseits ist das gut für mich. So kann ich mich im abgesperrten Besucherbereich frei bewegen, ohne dass ich schon wieder irgendwem im Weg stehe, der vielleicht das gleiche Bild machen will wie ich und eiligst darauf wartet, dass ich mich endlich entferne.
Das macht das Fotografieren so viel stressfreier.

Die Wände sind mit Ornamenten und Kaligraphien arabischer Schrift verziert. Was immer dort stehen mag, es schaut einfach wunderschön aus.
Warum fällt mir erst jetzt auf, nachdem wir schon in einigen Moscheen waren, dass der Islam genauso wie das Judentum auf jegliche bildliche Darstellung verzichtet, bzw. nur sehr, sehr behutsam einige Pflanzen oder Pflanzenteile erkennbar sind?
Keine Portraits, keine Gemälde, keine Skulpturen, keine Bilder, die den Koran illustrieren.

Ein weiteres Fensterfoto entsteht, die Pipeline für den Fensterfreitag ist jetzt übervoll, wenn ich jeden Freitag nur ein einziges Bild beisteuere, so der Plan, habe ich trotzdem über viele, viele Monate ausgesorgt.
Ich sollte weniger Fenster fotografieren. Aber was sollte ich nicht alles tun und was nicht alles lassen?
A propos Tun und lassen:
Als wir den Eintritt bezahlt haben und uns gerade anschicken, die Schuhe auszuziehen, weil wir ja eine Moschee betreten, winkt der freundliche Mann ab. Die Schuhe, so erklärt er uns, dürften wir gerne anbehalten. Ich schaue ihn irritiert und fragend an, er aber lächelt nur kurz und wendet sich dann wieder dem Plausch mit einem Mann zu, der im Hof sein kleines Geschäft hat.
Auch wenn ich Gefahr laufe, mich zu wiederholen: Es gibt so vieles in Bosnien und Herzegowina, das ich nicht verstehe?

Ein paar hundert Meter weiter lockt uns ein Schild zum Biščevića, dem Biščević House. Das Gebäude beherbergt ein kleines Museum, es ist ein ottomanisches Wohnhaus, das zeigt, wie die Menschen einst in Mostar gelebt haben.

Das Haus ist schnell besichtigt, im Hof gibt es ein paar Bänke, ein Kühlschrank steht an der Wand, es gibt also auch Kaltgetränke und türkischen Kaffee. Beides ist hochwillkommen. Da wir die einzigen Besucher sind, zumindest bis eine größere Reisegruppe einfällt, nimmt sich die junge Frau, die uns die Eintrittskarten und die Getränke verkauft hat, viel Zeit, unsere Fragen zu beantworten und alles zu erklären.
So nach dem feudalen Raum im ersten Stock. Als erstes fällt mir auf: Es gibt sie also doch, Bilder im Islam. Nur eben nicht in den Moscheen.

Dieser Salon war den Männern und ihren Geschäften vorbehalten, die Frauen hielten sich im Erdgeschoss oder auf dem Balkon auf, nicht aber im Herrenzimmer.

Unten im Hof, abseits des Wohngebäudes befand sich einst die Küche.

Hier treffen wir auch auf die ersten beiden und einzigen Schildkröten, die wir in Bosnien-Herzegowina sehen. Aber wir waren ja auch nicht wegen dieser Tiere hierher gekommen und wollten uns aus wohl nachvollziehbaren Gründen nicht kreuz und quer durchs Gelände bewegen, um welche zu suchen.
Ein Freund hatte mich vorab informiert, es gäbe ein türkisches Haus in Mostar, in dessen Garten Schildkröten lebten. „Hach, wie in meinem,“ denke ich noch, so hätte ich antworten können, als unvermittelt eine Schildkröte aus der Küche herausmarschiert kommt. Es muss also dieses Haus sein oder es gibt mehrere  Museumshäuser mit Schildkröten im Hof

…denn Garten würde ich das Ganze nicht nennen. Der Boden besteht zu 100 Prozent aus Kieselsteinen, Schattenplätze gibt es vor allem unter Tischen und Bänken. Ich habe keine Ahnung, wie und womit dieses Tier gefüttert wird. Und ich werde ganz gewiss keine Diskussion über Schildkrötenhaltung mit der jungen Frau anfangen. Was sollte das auch bringen, das Tier lebt seit Jahrzehnten dort, gräbt sich im Winter in einem Beet ein und taucht im Frühjahr dort wieder auf.
Als ich das Foto in einer Schildkrötengruppe zeige, aber nicht verrate, wo und wie es gehalten wird (außer eben, dass das Foto in Mostar aufgenommen ist), zeigen sich die Gruppenmitglieder ganz begeistert von dem schönen, glatt gewachsenen Panzer – am Glanz, so kommentiert einer, erkenne man, dass es sich wohl um ein Wildtier handle, denn nur solche Tiere glänzen so wunderschön.
Pustekuchen.
Als ich erwähne, dass es ein Tier im Hof eines Museums und kein Wildtier ist, aber ohne weitere Haltungsbedingungen zu erläutern, folgt die These, dann läge das wohl an der Luftfeuchtigkeit, die vom Meer herrühre. Das mag sein, nur liegt Mostar eben rund 50 Kilometer vom Meer entfernt. Die Luft ist trotzdem feucht, aber wohl mehr wegen der Flüsse.
Das aber erwähne ich in der FB-Diskussion nicht mehr.
Wie auch die eher wenig artgerechte Haltung dieser Tiere erwähnt wird.

Ich möchte das einfach nicht diskutieren. Nicht mit dem Leuten im Netz und noch weniger mit den Museumsbetreibern.

Tipp/Info für Nachahmer*innen (eigene Erfahrung, Stand 2023):

Fleisch, Fleisch und noch mal Fleisch -vor allem Gegrilltes. So schmackhaft die bosnische Küche ist, Vegetarisches findet sich da eher seltener. Nach vegetarischen Restaurants haben wir nicht gesucht, nach veganen erst recht nicht. Aber auf den Speisekarten aller Restaurants, die wir während unserer Rundreise aufgesucht haben, finden sich nur sehr wenige vegetarische Gerichte, zumeist gegrilltes Gemüse oder Salate. Vegan findet gar nicht erst statt. Es ist ein subjektiver Eindruck, schon klar.
Nationalgericht sind Ćevape, in der Verkleinerungsform bei uns den meisten als Ćevapčići bekannt: Gegrillte Hackfleischröllchen, die fast überall in Brottaschen mit frischen, gehackten Zwiebeln serviert werden. Unglaublich lecker und recht anders als das, was man hierzulande als Ćevapici angeboten bekommt. Jede Region hat dabei ihre besondere Variante.

Alle Teile:
Ankündigung
01: Banja Luka
02: Kozara Nationalpark
03: Der Familienfriedhof im Wald
04: Jajce
05: Die Mlinčići am Pliva See / Zenica
06: Sarajevo, eine erste Annäherung
07: Sarajevo, Baščaršija
08: Sarajevo, auf dem Trebević
09: Sarajevo, zwei Moscheen
11: Sarajevo, die einst belagerte Stadt
12: Auf dem Weg in die Herzegowina
13: Mostar, die alte Brücke
14: Mostar, Stadtrundgänge I
15: Mostar, Stadtrundgänge II
16: Blagaj
17: Weiter gen Osten
18: Sutjeska Nationalpark
19: Tjentište, der Außenpool
20: Tjentište, das Theater am Ende der Welt
21: Trebinje
22: Die Bogomilen Nekropole Radimlja
23: Počitelj
24: Studenci, die Kravica Wasserfälle
25: Nordwestwärts
26: Una Nationalpark
Epilog: Nur ein Stuhl?


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