Bosnien – Eine Reise (23): Počitelj

Warum ist es in Počitelj an der Neretva zu schön?
Vielleicht aus dem gleichen Grund, warum es auch am Rhein so schön ist.
Ich weiß, es ist immer etwas problematisch, das, was man im Urlaub sieht und erlebt, mit dem zu vergleichen, was man daheim hat, Parallelen zu ziehen, das eine oder andere besser zu finden.
Selten wird man damit dem einen oder dem anderen gerecht, meist beiden nicht.
Aber Sie wissen schon, warum es am Rhein zu schön ist?
Weil sich der Fluss behäbig durchs Tal bewegt, weil links und rechts am Ufer kleine, malerische Ortschaften liegen, nicht selten über ihnen auf dem Gipfel der grünen Hügel eine Burgruine thront.
Die Orte sind hübsch zurecht gemacht, die Häuser schmiegen sich an den Berg, zu dem enge Gassen hinauf führen. Eine (neu)gotische Kirche, dazu viele Cafés und Souvenirläden, die auf Besucher warten, dazu ein paar Häuser, in denen Menschen wie in einer Kulisse leben, Schilder den Durch- oder Zugang in Gärten untersagen. Ein Sehnsuchtsort und eine Quelle der Inspiration für Künstler, Kunsthandwerker und Dichter, die sich zeitweilig hier niederlassen.
Wo das Tal es erlaubt, befinden sich Weinberge.
Nicht ganz so malerisch windet sich am Ufer die Bundesstraße durchs Tal, nicht selten auf der anderen Seite die Bahnlinie.
Zu Füßen der der kleinen Orte große Parkplätze für Busse, die tagtäglich Gäste bringen und wieder einsammeln, direkt daneben kleine Verkaufstische und große Restaurants, die auf Bustourismus angewiesen sind, in denen sich das Servicepersonal aber ärgert, wenn die Touris die Toiletten stürmen, aber nichts verzehren. Das ist in Rüdesheim wenig anders als in Počitelj, dort wo die Neretva das enge Tal verlässt und durch eine breite und fruchtbare, von Hügeln umrahme Ebene Kroatien und der Adria entgegenfließt.

Einen entscheidenden Unterschied aber gibt es doch: Am Rhein stehen keine Moscheen und an der Neretva weniger Kirchen.

Was auf den ersten Blick wie eine aussehen könnte, ist nur ein Uhrenturm. Denn während der osmanischen Zeit wurden viele davon erreichtet, ob nun in Sarajevo oder in Počitelj, einem Ort, den zu besichtigen einfach jeder Reiseführer oder -blog dringend empfiehlt.

Früh machen wir uns also auf den Weg nach Počitelj, das nur wenige Kilometer von unserem Hotel am Stadtrand von Čapljina entfernt ist.
Wollen wir die ersten sein? Haben wir Angst, am Ende keinen Parkplatz zu bekommen?
Mitnichten. Wir wollen nur der Mittagshitze ausweichen, die Wetterapp kündigt einen enorm heißen Tag an, nicht optimal für eine Stadtbesichtigung.

Počitelj ist allerdings gar keine Stadt, ein Städtchen vielleicht, ein besonders malerisches, wie eingangs beschrieben. Zeitweilig de Ort die Heimat einer Künstlerkolonie, einst Jugoslawiens Beitrag zur Boheme, wenn man so will. Wie so vielem, hat der Krieg dem jedoch ein Ende bereitet. Heutzutage bauen morgens die Souvenirhändler in den Gassen ihre Verkaufsstände mit den gleichen Produkten auf wie überall an den Hotspots in Bosnien und Herzegowina. Mehr Kitsch als Kunst, mehr Krempel als Können.
Noch während sie ihre Läden aufsperren oder Tische in die engen Gassen mit Waren aus großen Taschen dekorieren, steigen wir die Stufen zur Festung hinauf.
Wir sind nicht die Ersten, nicht die Einzigen, aber das eine oder andere Bild gelingt, dass es den Anschein hat, es wäre so.
Einmal im Treppen- und Gassengewirr falsch abgebogen, steigen wir aber statt zur dreieckigen Burg im Süden der Stadt zunächst zur Befestigungsanlage im Norden hinauf.
Macht gar nichts, höchst romantisch ist es dort als wir den Torbogen durchschritten haben. Es geht sogar ein angenehm kühler Wind.
Die Aussicht ist fantastisch, sowohl aufs Tal und den Fluss als auch auf die Häuser, die sich um die Moschee des Šišman Ibrahim-Paša sammeln. Darum nämlich ist es in Počitelj so schön.

Dass Počitelj bei nahezu allen Listen mit den Top Ten Locations, besten, schönsten Orten gelistet ist, ist zwar nachvollziehbar, legt die Messlatte ganz schön hoch. Würde ich nach dem Urlaub eine Liste anfertigen, was man unbedingt in Bosnien und Herzegowina besucht haben muss, ich glaube, ich täte mich etwas schwer mit der kleinen Stadt an der Neretva. Ist das wirklich ein must see?
Wie gut, dass ich eine solche Liste nicht machen muss, schon gar nicht, da ich viel zu viel selbst noch nicht kenne, noch nicht gesehen habe.
Ja, schön ist es dort, keine Frage; aber dieses Unbedingte, dieses Prädikat, sehe ich eher nicht.

 

In der Ferne, gen Norden, ist die Baustelle der Autobahn zu sehen, die von Mostar herunterführt. Noch ist sie sehr lückenhaft. Irgendwann soll sie Bosnien und Herzegowina mit der Adria verbinden. Schön sind die mächtigen Brücken, die über das Flusstal wie auch das Tal der Trebižat führen, nicht. Aber, um doch noch mal einen Vergleich zu bemühen,  überall in Europa stehen diese landschaftsverschandelnden Ungetüme, auch in unmittelbarer Nähe des Dorfes, in dem wir leben, gehasst und doch gebraucht, denn ich weiß natürlich, wie stark die Verkehrsbelastung in der Region abgenommen hat, seit die Autobahn fertig gestellt ist. Das dürfte im Neretva Tal später nicht anders sein. Auch hier kommen Pendler-, Reise- und Güterverkehr, die sich durch die Täler und Ortschaften schieben, zusammen.

Aber noch wird gebaut.

Wir verlassen die Festung „tasten“ uns am oberen Rand des Ortes nach Süden zur alten Burg vor, ein Tor scheint der richtige Weg, ist es aber nicht. Hier laden gerade ein paar Männer eine Waschmaschine aus, die sie durch die Gassen hinunter zu einem der Häuser wuchten müssen. Es ist eben nicht auch von  Nachteil, in einem solch malerischen Ort zu wohnen, es ist mit einiger Müh verbunden. Wir beobachten auch einen Maurertrupp in den engen Gassen, auch sie haben alles hierher wuchten müssen. Und wenn man keine Schilder aufhängt und die Tore verschlossen hält, stehen unentwegt irgendwelche Touristen im Garten. Will ja auch keiner.

Während die alte Burg nicht wirklich spannend ist, erlaubt sie zumindest einen grandiosen Blick hinüber zur Festung. Und dafür lohnt es sich in jedem Fall.

Auf dem Rückweg ins Tal kommen uns auf den Treppen mehr und mehr Reisegruppen entgegen, unten steht mittlerweile ein Dutzend Busse, weitere gesellen sich dazu. Während wir mit Počitelj schon wieder fertig sind und im Gastgarten eines Restaurants einen Espresso und ein Wasser zu uns nehmen, startet für das Städtchen jetzt erst der ganz normale Alltag.
Ratlos und unentschlossen stehen Frauen in kleinen Gruppen auf dem Parkplatz, abgesetzt, ein wenig ausgesetzt. Man sieht ihnen an, dass sie nicht wirklich wissen, was sie jetzt hier tun sollen. Zur Burg hinaufstapfen, durch die Gässchen laufen? Ein Café suchen?
Warum nicht erst mal das hier unten am Parkplatz betreten und da aufs Klo gehen?
Und so geschieht es auch.
Und der Kellner ärgert sich.

 

Alle Teile:
Ankündigung
01: Banja Luka
02: Kozara Nationalpark
03: Der Familienfriedhof im Wald
04: Jajce
05: Die Mlinčići am Pliva See / Zenica
06: Sarajevo, eine erste Annäherung
07: Sarajevo, Baščaršija
08: Sarajevo, auf dem Trebević
09: Sarajevo, zwei Moscheen
11: Sarajevo, die einst belagerte Stadt
12: Auf dem Weg in die Herzegowina
13: Mostar, die alte Brücke
14: Mostar, Stadtrundgänge I
15: Mostar, Stadtrundgänge II
16: Blagaj
17: Weiter gen Osten
18: Sutjeska Nationalpark
19: Tjentište, der Außenpool
20: Tjentište, das Theater am Ende der Welt
21: Trebinje
22: Die Bogomilen Nekropole Radimlja
23: Počitelj
24: Studenci, die Kravica Wasserfälle
25: Nordwestwärts
26: Una Nationalpark
Epilog: Nur ein Stuhl?


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