Bosnien – Eine Reise (11): Sarajevo, die einst belagerte Stadt

Über die einstige Belagerung der bosnischen Hauptstadt zu schreiben, über Krieg und Tod, Friedhöfe und Srebrenica, ist vielleicht das schwierigste Unterfangen dieser Blogserie. Aber ich will es nicht aussparen, kann es nicht, habe aber Verständnis, wenn Sie diesen Beitrag überspringen.
Ich frage mich, ob dieses Interesse an dem Thema schon zum Dark Tourism zählt, als ich einen Spiegel-Artikel zum Thema. lese. Bin ich ertappt oder auf der sicheren Seite, wenn Tourismus-Forscher Christian Eckerts in diesem Artikel sagt: „Ich bereise ein Land, um es besser zu verstehen – und die düsteren Kapitel seiner Vergangenheit prägen das Land nun mal mit.“
Genauso sehe ich das auch, empfinde mich nicht als Voyeur und werfe zudem Respekt statt Selbstinszenierung vor Ort (Stichwort Posing, Selfies) mit in die Waagschale.

Vom Krieg war in dieser Bosnienserie schon öfter die Rede, von Gebäuden, die im Bosnienkrieg (1992-1995) zerstört und wieder aufgebaut wurden, oder von solchen, die eben nicht wieder aufgebaut wurden, von Einschüssen in den Fassaden, von Schäden durch Granatentreffer. Davon wird auch in den Folgebeiträgen noch die Rede sein, denn auch knapp 30 Jahre nach dem Friedensschluss und dem Abkommen von Dayton sind die Wunden des Krieges in diesem Land in den Gebäuden allgegenwärtig. In der Bevölkerung sowieso.

Aber es steht mir nicht zu, vom Krieg zu erzählen und darüber zu urteilen, das müssen Zeitzeugen machen oder Historiker. Als Urlauber kann ich nur eine Bestandsaufnahme geben von den unmittelbaren Eindrücken.

Sarajevo war von 1992 bis 1995 belagert, eng hatte sich der Ring der serbischen Armee um die Stadt geschlungen. Von strategischer Bedeutung war dabei der Trebević, jener Olympiaberg. Die Artillerie bezog dort ihre Stellungen, es ist eben nicht nur der großartige Ausblick über die im Talkessel gelegene Metropole hervorragend. Es war auch das freie Schussfeld auf alle Straßen, die von Ost nach West verlaufen.
Wer heute den Berg mit der Gondel hinauf fährt, kann Häuser bzw. Reste davon auf den Wiesen oberhalb der Stadt stehen sehen. Sie waren ins kriegerische Geschehen einbezogen, ich habe sie von der Gondel aus fotografiert und später auf Kriegsfotos wiedererkannt.

Solche Häuser haben wir in vielen Städten gesehen, es werden auch noch einige Bilder in anderen Beiträgen folgen. Ein Abschnitt unserer Reise führte uns durch schier verödete, fast entvölkerte Landstriche, alle paar hundert Meter eine Ruine neben der Straße, selten ein bewohntes Haus.
Der Trebević war übrigens auch der Ort, an dem bosnische Soldaten die in der Stadt zwischen 1992 und 1995 ermordeten serbischen Einwohner, zumeist Zivilisten, in einer Schachthöhle „verschwinden“ ließen. Es ist der Ort des sogenannten Massaker von Kazani.

Westlich der Stadt liegt der Flughafen. Seine Landebahn war von der UNO kontrolliert, von den Hängen drohte während der 44 Monate dauernden Belagerung tödliche Gefahren. Scharfschützen hatten es auf jeden Menschen abgesehen, der versuchte, über die Landebahn aus der Belagerung herauszukommen. Südlich der Landebahn befindet sich heute ein kleines Tunnelmuseum, denn die Einwohner Sarajevos haben sich ausgehend von dem Keller des kleinen Haus einen Tunnel gegraben, ein Schlupfloch, durch das die Stadt zeitweilig sogar mit Strom versorgt werden konnte – dem Zugriff der Belagerer entzogen. Es ist mehr als beklemmend, dieses Museum zu besuchen. Den Originaltunnel kann man nicht mehr besichtigen, einen Nachbau hingegen schon.
Es ist eine Geschichte, die einen Hollywood-Film verdient hätte, vielleicht gibt es sogar einen. Ich weiß es nicht:
Eine Geschichte von Helden, von einfachen Leuten, die anpacken, die helfen. Es ist eine Geschichte von Schwerverwundeten, die über eine Schieblore aus der Stadt gebracht wurden, vom Präsidenten Alija Izetbegovic, der durch den Tunnel in die Stadt geholt wurde, von der internationalen Presse, die auch davon wusste, aber erst Jahre später darüber schrieb.
Es ist eine Geschichte von Wagemut, vom Trotz gegen alle Widrigkeiten wie Wassereinbrüchen und der Beschaffung des Baumaterials, von den Gefahren, dass das Ganze scheitert, verraten, zerstört durch serbischen Beschuss oder einen Sabotageakt.
Es ist eine Geschichte fürs Kino und fürs Gemüt.
Natürlich erzählt das kleine Privat-Museum, das im Haus des damaligen Tunnelbauers errichtet wurde, sie als Heldenepos. Wer könnte es ihm verdenken?
Wurde das je auf der Leinwand erzählt? Ich weiß es nicht.

Wieder und wieder hat die serbische Armee das Haus unter Beschuss genommen, denn natürlich wusste man bald von dem Projekt. Verhindert hat es den Tunnelbau allerdings nicht. Rot umkringelt hat der Haus- wie Museumseigentümer die Einschüsse in seiner Fassade markiert.

Am erschütterndsten sind die vielen großen Friedhöfe, die überall in der Stadt verteilt liegen. Stele reiht sich dort an Stele, Grab an Grab. Ausnahmslos zeigen die Grabsteine die Todesjahre 1992 bis 1995. Es erfordert nicht viel Nachdenken, warum das so ist, aber umso mehr, warum das so sein musste. Ich verstehe es bis heute nicht. Ich weiß , wie es dazu gekommen ist, das beantwortet aber nicht das Warum, zumindest dann nicht, wenn man nach akzeptablen und nachvollziehbaren Gründen sucht.
Auf solchen Friedhöfen liegendie Toten der Belagerung, die Gefallenen des Krieges zu Hunderten.

Ich habe selten so viele Kriegsgräber auf einmal gesehen, von Verdun einmal abgesehen. Und ich habe selten ein Land bereist, in dem es insgesamt so viele Friedhöfe gibt. Und selten kam mir der Krieg, der in diesem Land gewütet hat, emotional so nah wie hier.
Eng stehen die Stelen nebeneinander, demzufolge sind auch die Gräber dicht nebeneinander, hier wurde kein Zentimeter Platz verschenkt. Er wurde gebraucht.

Und kaum verlässt man den einen, sieht man in nicht allzu großer Ferne den nächsten Friedhof zwischen den Häusern am Hang. Das ist nicht nur in Sarajevo so.

Es gäbe noch, will man das volle Post-Kriegs-Touri-Programm absolvieren, viel mehr: Thematische Stadtführungen und diverse Museen zur Belagerung und zum Krieg, ich beschränke mich nur auf Eines (s.u.). Auch die Ulica Zmaja od Bosne hinabzulaufen, ersparen wir uns, jene Sniper Alley, wie die Straße während des Kriegs genannt wurde. Heute ist sie das, was sie vor dem Krieg war: Eine Hauptverbindungsachse quer durch die Stadt. Einst sind hier Menschen aus Angst vor Scharf- und Heckenschützen aus den Häusern um ihr Leben gerannt.
Mir fällt eine Schlüsselszene aus Peacemaker ein, der 1999 in die Kinos kam, 1997 wurde er produziert, da war Hollywood unglaublich schnell. In dieser Szene sterben die Angehörigen des bosnischen Musikers Dusan Gavrich durch Beschuss durch Sniper (Link hier). Gavrich hält sein Kind in den Armen, die Blauhelm-Soldaten fahren vorbei, Hilfe wird ihm versagt. Das wird ihm die Seele verhärten.
Für mich ist das eine ungemein eindrucksvolle, sehr heftige Szene, in der der rumänische Schauspieler Marcel Iures (alle zuvor angefragten serbischen Darsteller hatten die Rolle abgelehnt, lese ich in den Trivia über den Film) in den wenigen Minuten den Schmerz eines ganzen Landes zeigt.
Gedreht wurde sie in Mazedonien, verortet ist sie aber in Bosnien. Liegt vielleicht der Anfangswunsch, einst das Land zu bereisen, soweit zurück?

Und Srebrenica?

Ich wurde vor der Reise mehrfach gefragt, ob wir auch dort hinfahren wollten und nach der Rückkehr, ob wir dort waren. Das waren wir nicht.

Warum nicht?
Es erschien uns nicht opportun, in der Woche, in der sich das Massaker jährt, ausgerechnet nach Srebrenica zu fahren. Touristen haben an solchen Orten an solchen Tagen nichts zu suchen. Meine Meinung.
Gräberfelder mit unfassbar vielen umgebrachten Menschen haben wir viele gesehen. Dazu ein riesiges Mural, eine Wandmalerei an der Maršala Tita in Sarajevo mit dem charakteristischen Blumenlogo. Menschen in Bosnien kaufen sich im Juli gehäkelte Anstecker dieses Logos und heften es sich ans Revers, ähnlich wie die Mohnblumen in England.
Vielleicht ist das nicht das beste Souvenir, das man sich in Baščaršija bei einer Straßenhändlerin kaufen kann. Ich habe es trotzdem getan und mit nach Hause genommen.
Ebenfalls mit nach Hause genommen habe ich zwei Bildbände, die ich in der Galerija 11/07/95 erworben habe, nachdem ich dort die Ausstellung der Fotografen Tarik Samarah besucht habe. Samarah hat vom Anfang des Bekanntwerdens der Massaker an die Spurensuche fotografisch begleitet, war bei den Geflüchteten und Evakuierten, war bei den Exhumierungen dabei, bei der Recherche zu Identifizierung der Leichenteile wie auch bei der Blutabnahme der Bevölkerung zur DNA-Analyse, denn oft blieb nichts anderes mehr. Und er war bei der würdevollen Bestattung der Toten in Srebrenica dabei. Menschen, fast alle männlich, zwischen 13 und 78, einige wenige Bilder von Frauen finde ich auch.

Noch vor der Ausstellung gibt es einen Raum, an dessen Wänden Portraits der Ermordeten, sofern welche verfügbar waren, hängen. Ich schaue in ihre Gesichter, ein jedes mit einer Geschichte, mit Hoffnungen, Wünschen, Träumen, Sorgen, Kummer und Freuden. Alle ermordet. Es ist im wahrsten Sinn des Wortes unbegreiflich, unfassbar.

Und es sind noch viel, viel mehr Menschen – denn nicht von jedem gab es ein Foto, nicht jede Leiche konnte bis heute identifiziert werden, nicht jede wurde bis heute gefunden. Ich weiß in diesem Moment: Ich muss nicht nach Srebrenica fahren, es würde mich nicht stärker erschüttern als diese Ausstellung.

Im Eingangsbereich sind die Namen aller 8.372 Personen und ihr Geburtsjahr aufgelistet. Die Augen verschwimmen, auch die die Kamera packt es nicht, aber das muss sie auch nicht.

Es ist anmaßend, letztlich auch eine Urheberrechtsverletzung, Fotos von Fotografen abzufotografieren.

Daher habe ich nur ein paar atmosphärische Bilder gemacht, sie geben nur ansatzweise wieder, was man in dieser Ausstellung erlebt, vor allem, wenn man per Audio Guide Saramahs Schilderungen aus dieser Zeit folgt. Es zieht einem förmlich den Boden unter den Füßen weg. Irgendwann muss man sich setzen. Irgendwann sehnt man hinaus zurück ans Tageslicht, hinaus an die Sonne. Ich will davon laufen, aber ich bin hier noch nicht fertig.

Ich lese Fotos von den Kritzeleien der niederländischen Blauhelmsoldaten, die sie in der alten Fabrik, in der sie in Srebrenica hinterlassen haben. Darin liegen keine Antworten auf meine Fragen, nur noch mehr Sprachlosigkeit und Scham. Es ist eine unendliche Scham für das Menschenverachtende an die Wand Geschmierte, derer, die gesandt wurden, diese Menschen zu schützen und nicht zu verhöhnen.
Dazu kommen Empörung und Wut gegenüber denen, die heute all das leugnen, relativieren; vor allem aber gegenüber denen, jetzt wieder anfangen, die verurteilten Kriegsverbrecher zu feiern. Es sind Provokateure im Netz, die für Ratko Mladic schwärmen, die Freilassung von Radovan Karadžić fordern.
Es macht mich fassungslos, das Pressefoto zu sehen, auf dem sich der Kommandeur der UNO-Truppen in Srebrenica Thom Karremans lächelnd neben Mladic gestellt hat, beide mit einem Gläschen Schnaps in der Hand. Als gäbe es etwas zu feiern.

Ja, es war schwer und verstörend, diese Ausstellung zu besuchen. Trotzdem: Es ging aber nicht anders, ich musste das sehen, nicht nur der brillanten, erschütternden Fotos wegen, sondern auch, um mich mit den Geschichten dahinter zu konfrontieren.
Und ich bin froh, eine weiße gehäkelte Blume gekauft zu haben:
Remembering Srebenica!

Mit diesem Beitrag verlassen wir Sarajevo, wenden uns nach Süden gen Mostar. Und es wird wieder fröhlicher. Versprochen.

Tipp/Info für Nachahmer*innen (eigene Erfahrung, Stand 2023):
Wie tief steigt man ein in den Dunklen Tourismus?
Das muss jeder selbst wissen: So tief, wie man will, wie man es ertragen kann.
Manchmal möchte ich ganz bewusst weit hinein in den Abgrund schauen, in die düstere, traurige, bedrückende Kapitel der Geschichte dieses Landes. Das liegt nicht jedem, das mag nicht jeder. Es ist vollkommen in Ordnung, sich nur die schönen Seiten anzuschauen und zu genießen.
Wem das aber zu wenig ist und wer es sich zutraut, hat in Sarajevo wie auch in anderen Städten des Landes viele Gelegenheiten, sich mit Krieg und Zerstörung samt all seiner Verbrechen, mit Trauer, Wut, Verbitterung auseinanderzusetzen und auf diese Art seinen eigenen inneren Kompass und die eigenen Einstellungen zu all dem zu überprüfen und vielleicht etwas zu justieren.

Alle Teile:
Ankündigung
01: Banja Luka
02: Kozara Nationalpark
03: Der Familienfriedhof im Wald
04: Jajce
05: Die Mlinčići am Pliva See / Zenica
06: Sarajevo, eine erste Annäherung
07: Sarajevo, Baščaršija
08: Sarajevo, auf dem Trebević
09: Sarajevo, zwei Moscheen
10: Sarajevo, der alte jüdische Friedhof
11: Sarajevo, die einst belagerte Stadt
12: Auf dem Weg in die Herzegowina
13: Mostar, die alte Brücke
14: Mostar, Stadtrundgänge I
15: Mostar, Stadtrundgänge II
16: Blagaj
17: Weiter gen Osten
18: Sutjeska Nationalpark
19: Tjentište, der Außenpool
20: Tjentište, das Theater am Ende der Welt
21: Trebinje
22: Die Bogomilen Nekropole Radimlja
23: Počitelj
24: Studenci, die Kravica Wasserfälle
25: Nordwestwärts
Epilog: Nur ein Stuhl?


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3 Antworten

  1. manni sagt:

    Ein wirklich gelungener Beitrag ! Ich habe ihn bewusst nicht übergangen sondern gelesen. Tatsache ist, dass ein solcher Krieg in Europa exsistierte aber es gibt bestimmt viele die ihn nicht kennen ( außer die Menschen die ihn erlebt haben ). Er ist einfach in Vergessenheit geraten.
    Solche Schauplätze zu besuchen als Urlauber kann man tun, muss es aber nicht. Ich persönlich hätte aber das gleiche getan wie du.
    Am meisten schockiert einen das Foto von den unzähligen Stelen
    Von meiner Seite aus Danke für die Informationen

    • Lutz Prauser sagt:

      Lieber Manni, vielen Dank für Deinen Kommentar. Es tut gut, zu wissen, dass solche Beiträge auch mit Interesse, Aufmerksamkeit und Nachdenklichkeit gelesen werden.

  2. Einfach nur schrecklich für alle, die diesen Krieg erleiden mussten – viel anders wird es nach Beendigung des Krieges in der Ukraine auch nicht sein. – Ich für mich bin so glücklich, dass ich die langen Jahre bisher ohne Krieg in Deutschland leben durfte.

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