Schmerzhafte Erinnerungen: Karnickelfangschlag und Pferdekuss

Ja, er tat weh, der Karnickelfangschlag. Manchmal sogar verdammt weh. Und ich war der, der diese harten Schläge öfter einstecken musste als austeilen konnte.
Womit wir mal wieder bei diesem ominösen Früher sind, bei Erinnerungen an lange vergangene Tage.

Zum Raufen und Rangeln war ich nicht geboren, ich war zu schmalbrüstig, zu schwach, zu unsportlich. Ein Hänfling, wie es oft in der Familie zu hören war. Ich war der, bei dem jede Rippe zählen konnte, der, der mit hängenden Schultern herumlief.
Ich war der, dem „Kinderlähmung“ angedroht wurde. Damals lief die Werbekamapgne Schluckimpfung ist süß – Kinderlähmung ist grausam. Zwar wussten wir, was damit gemeint war, denn natürlich wurde uns diese Impfung auch auf einem Zuckerwürfel verabreicht, aber wir wandelten das Ganze ab. Kinderlähmung, das war das Synonym für einen herben Schlag mit der Faust auf den gespannten Oberschenkel – gemeinhin auch als Pferdekuss bekannt. Sehr schmerzhaft, natürlich grausam und bestens geeignet, das Bein wenigstens kurzfristig nicht bewegen zu können. Öfter ereilte mich so ein Schlag, dem die provozierende Frage, die mehr eine Drohung war, voranging, ob ich ’ne Portion Kinderlähmung haben wolle. Wollte ich nicht, aber da sauste schon die Faust auf den Oberschenkel, es war eben einfach, mich mit einer Hand in den Klammergriff zu nehmen. Und schon verursachte die stumpfe Gewalteinwirkung eine leichte Oberschenkelprellung, schmerzhaft ja, aber doch vorsichtig genug verabreicht, dass es keine blauen Flecken gab. Raufende Kinder können ja so sensibel miteinander umgehen.
Ich habe übrigens nicht die geringste Ahnung, ob diese Pferdeküsse damals in den 70ern bei anderen auch als eine Portion Kinderlähmung bezeichnet wurden oder nicht.

Und dann gab es eben auch den berüchtigten Karnickelfangschlag. Der aber kam eher selten zur Anwendung. Wen man ins Raufen oder Rangeln geriet, versuchte jeder, einen Schlag mit der Handkante im Nacken des Anderen zu platzieren. Denn natürlich hatten wir alle „Kung Fu“ mit David Carradine gesehen. Wir wussten alle von der verheerenden Wirkung dieser Schläge, die jeden Gegner unschädlich machte, bisweilen sogar tötete.

Bruce Lee war uns in diesem Alter noch verwehrt, den entdeckten wir erst später, als wir aufs Gymi gingen: Samstags nachmittags liefen Filme mit Bruce Lee für zwei Mark im Hohenlimburger Lux-Theater. 15 Uhr: Kinderprogramm, gut gemischt mit KingKong – Frankensteins Sohn, Ein toter Taucher nimmt kein Gold, Godzilla, Filmen mit Bud Spencer und Terence Hill, Louis de Funes oder Jean-Paul Belmondo. Gelegentlich wurde auch Winnetou aus der Mottenkiste wieder hervorgeholt. Auf alle Fälle wurde viel geprügelt im Sonderprogramm des Kinder- und Jugendkinos. Das prägt – das wollte nachgespielt werden.

Karnickelfangschlag? Der doch nicht. Aber so weit waren wir noch nicht. Noch waren wir Vorstadtindianer und -cowboys mit Erbsen- und Zündplättchenpistole, Gummimesser, Bogen und Gumminopfenpfeilen und Co. Doch trotz dieser schweren Bewaffnung blieb es manchmal nicht aus, dass wir auch in direkte körperliche Auseinandersetzung gerieten. Und zwar nicht nur, wenn wir kostümiert auf dem Kriegspfad waren und Fernsehgeschichten wie Winnetou, Rauchende Colts oder Kung Fu nachspielten.
Den Handkantenschlag kannten wir aber, bevor David Carradine uns zeigte, wie man seine Gegner waffenlos besiegte, dem Namen nach aus einem ganz anderen Zusammenhang. Es war der Karnickelfangschlag.

Und das war wörtlich gemeint.
Bevor sie geschlachtet wurden, schlug man den Kaninchen heftig ins Genick, um es zu töten. Ich habe dem nie beigewohnt, weder dem Töten noch dem Schlachten der Kaninchen. Aber ich wusste: In einigen Gärten der Siedlung, vor allem im älteren Teil unseres Vororts, in Alt-Emst, in Bissingheim oder am Elmenhorst fand das noch statt. Da gab es tatsächlich noch Leute, die im Garten hinterm Haus Kleintiere hielten, um sie zu essen. Das war nichts Ungewöhnliches, also war es der Karnickelfangschlag auch nicht. Und das Wort hatte sich längst auf eine besonders liebevolle zwischenmenschliche Interaktion übertragen: Den Schlag ins Genick, da gab’s dann buchstäblich eins hinter die Löffel, nicht selten auf Ansage.
So wie die leichten Schläge auf den Hinterkopf angeblich das Denkvermögen erhöhen sollten, war auch dieser Hieb, den manche Kinder meiner Generation noch regelmäßig verabreicht bekamen, eine erzieherische Maßnahme bei Eltern, denen die Hand locker saß. Auch dieser Schlag wurde Karnickelfangschlag bezeichnet, wenngleich er doch nicht in todbringender Absicht ausgeführt wurde.Nicht selten blieb es auch nur bei der Androhung, das ist ungefähr so, wie wenn in Bayern der Watschnbaum umzufallen drohte.
Konsequenterweise nannten wir in unserer Kinderzeit jeden festen Schlag Karnickelfangschlag. Ob nun aufs Genick zielend und mit Handkante ausgeführt oder nicht. Ausgenommen waren davon nur Pferdeküsse oder elterliche Ohrfeigen, von denen ich allerdings während meines Lebens nicht einmal ein halbes Dutzend bekommen habe. Geschlagen wurde bei uns daheim nicht und nur ganz selten rutschte die Hand aus. So fair muss man sein.
Der Karnickelfangschlag war eher der, den man sich unter rivalisierenden Kinderbanden nachmittags beim Spielen im Wäldchen gegenseitig androhte: Präpubertäres Imponiergehabe.
Entscheidend allerdings war: Der Schlag, soweit es überhaupt dazu kam, musste fest genug sein und schmerzend, so, dass er unserer Vorstellung nach ein Kaninchen hätte töten können. Aber uns doch nicht. Wir waren ja die Harten. Und wir waren im Garten – also ich eher weniger. Ich war zwar auch im Garten, aber eben nur ein Hänfling. Einen Karnickelfangschlag hätte ich folglich kaum jemanden verpassen können – ich kam gar nicht erst in die Gelegenheit, denn ich lag, wenn es doch mal handgreiflich wurde, sowieso sofort auf dem Rücken, den anderen sitzend über mir, mich auf die Erde drückend. Das war dann einer der Momente, in denen ich gewünscht hätte, von Kwai Chan Caine wenigstens ein wenig asiatische Kampfkunst hätte abschauen zu können. War aber nicht so.
Ob Stallkaninchen vor ihrer Schlachtung heutzutage immer noch per Fangschlag vom Leben zum Tode befördert werden? Ich habe keine Ahnung. Und eigentlich will ich das auch gar nicht wissen.


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