Bosnien – Eine Reise (Epilog): Nur ein Stuhl?

Als mich im Sommer via Facebook die Nachricht von Anita Scheidig erreichte, die das Stuhl Foto gesehen hat, das ich in der Mula Mustafe Bašeskije in Sarajevo, aufgenommen hatte, war ich etwas überrascht.
Ich hatte dieses Bild bei einem Rundgang in der Stadt aufgenommen und wusste sofort, dass das das letzte Foto der Reise sein wird, dass ich in die Sozialen Medien stelle. Erst, wenn wir auf der Rückfahrt sind, erst jenseits der Grenze in Kroatien, damit im EU Raum und folglich mit bezahlbaren Roamingkosten. Es sollte ein Abschiedsfoto sein: Abschied von der Reise und auch von den täglichen Spotlights auf Facebook, Mastodon, Twitter und im WhatsApp Status. Leere Stühle, Bänke, Liegestuhl sind ein Motiv, das ich oft vor der Kamera habe. Es ist so bedeutungsschwer wie weit interpretierbar.
Ich schrieb: „Es heißt, Abschied zu nehmen von einem wunderbaren Land. Eine Reise, die faszinierend war, neigt sich dem Ende zu. Heimwärts geht’s.
Wiederkommen? Unbedingt. Neues entdecken und Eindrücke (vor allem von Sarajevo, wo dieses Foto entstand) vertiefen.“

In Verbindung mit diesen Zeilen ist die Deutung des Bildes allerdings vorgegeben: Ein Stuhl ist frei, ein Platz – er wartet auf Dich. Komm her. Es ist einladend.
Hätte ich dem Bild einen anderen Begleittext mitgegeben, so sinniere ich, es wäre wohl auch eine vollkommen andere, gegenteilige Interpretation möglich. Ein verwaister Stuhl, ein Platz der leer bleiben wird. Weil da einer fehlt, der nicht mehr kommen wird. Vielleicht ist das seit Jahren so, denn der Stuhl ist alt, abgewetzt, wacklig. Und er steht in Sarajevo, einer Stadt, die noch immer voller tiefer Narben eines Krieges ist.
Dann trifft das Bild vielleicht ganz anders ins Herz, berührt, bewegt, bringt beim Betrachten melancholische Saiten zum klingen.

Das ist so spekulativ, wie das Foto manipulativ ist. Und genau das sollte es sein. Ein leerer Platz, ein hingestellter Stuhl – das löst fast automatisch Gedanken aus und damit Gefühle.
Was aber, hätte ich behauptet, das Foto sei in Duisburg aufgenommen? Dann würde es möglicherweise wieder vollkommen anders gedeutet: Die Vermüllung der Stadt, der Verfall, alles ist heruntergekommen, alles kaputt. Da will keiner mehr sein, da will keiner mehr hin. So etwas in der Art?

Anita schreibt mir, sie würde das Bild sehr gern adaptieren und ihre Version im Netz teilen. Es habe sie beeindruckt und betroffen gemacht.
Gibt es ein größeres Kompliment für jemanden, der gern fotografiert als genau ein solches? Ein Bild, das bei der Betrachterin Emotionen hervorruft, vielleicht Gedanken, ein Bild, das nicht einfach so weitergescrollt oder geblättert wird, das ist es, was wir uns alle wohl wünschen, zu machen.
Auch, wenn es – zugegeben – manipuliert und ich mir dessen bewusst bin. Aber das „Setting“ hat auch mich manipuliert, als ich es gesehen habe. Es hat etwas provoziert: Ein Foto zu machen, dem ein paar Zeilen zuzuordnen. Es zeigen zu wollen, weil es das ausdrückt, was ich empfinde, bzw. weiß, was ich empfinden werde: Den Abschiedsschmerz bei der Heimreise. Klingt vielleicht etwas arg pathetisch, ist aber durchaus ehrlich.

Anita hat ein Aquarell angefertigt: Aquarell, Schminke Horadam, Mjiello, DinA4, fein informiert sie und zeigt ihr Bild vom Stuhl.

Und sie hat dem eine ganz andere, wunderbare Bedeutung verliehen:
„Vielleicht kommt das Glück, dann muss man ihm einen Stuhl hinstellen.“
So ist es!

Was bleibt, ist Danke zu sagen:
Ich danke Anita, ihr Bild hier zum Thema machen zu dürfen. Ich danke allen, die diese äußerst lange, sehr detailreiche Serie im Blog verfolgt und mitgelesen haben, ob nur einen Teil, mehrere oder alle. Und ich hoffe, damit nicht nur Sympathie für ein uns allzu unbekanntes Land direkt vor unserer Haustür geweckt zu haben sondern auch Neugier. Und wenn ich dabei das eine oder andere Vorurteil oder Klischee habe beerdigen helfen können, ist das nur gut.

Tipp/Info für Nachahmer*innen:
Fahren Sie unbedingt selbst mal hin. Es lohnt sich.

Alle Teile:
Ankündigung
01: Banja Luka
02: Kozara Nationalpark
03: Der Familienfriedhof im Wald
04: Jajce
05: Die Mlinčići am Pliva See / Zenica
06: Sarajevo, eine erste Annäherung
07: Sarajevo, Baščaršija
08: Sarajevo, auf dem Trebević
09: Sarajevo, zwei Moscheen
11: Sarajevo, die einst belagerte Stadt
12: Auf dem Weg in die Herzegowina
13: Mostar, die alte Brücke
14: Mostar, Stadtrundgänge I
15: Mostar, Stadtrundgänge II
16: Blagaj
17: Weiter gen Osten
18: Sutjeska Nationalpark
19: Tjentište, der Außenpool
20: Tjentište, das Theater am Ende der Welt
21: Trebinje
22: Die Bogomilen Nekropole Radimlja
23: Počitelj
24: Studenci, die Kravica Wasserfälle
25: Nordwestwärts
26: Una Nationalpark
Epilog: Nur ein Stuhl?

 


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2 Antworten

  1. Scheidig Anita sagt:

    Hallo Lutz, dein Beitrag löst auch bei mir wieder Emotionen aus.
    Danke dir für deinen Epilog. Für mich ist das Thema noch nicht abgeschlossen. Ich würde mir wünschen, dass sich das Glück für ganz viele Menschen niedersetzt.

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