Bosnien – Eine Reise (06): Sarajevo, eine erste Annäherung

Sarajevo!
Endlich! Endlich! Endlich!
Doch wo anfangen, davon zu erzählen?

Vielleicht mit dem Hinweis, dass es über Sarajevo ein halbes Dutzend Blogbeiträge geben wird. Zu vielfältig, zu unterschiedlich sind Erlebtes und die daraus resultierenden Eindrücke, um sie alle in einem Beitrag unterzubringen. Gleiches gilt für die Bilder. Daher gibt es hier „nur“ eine erste Annäherung an eine Stadt, die so spannend und faszinierend ist, selbst wenn man nur ein paar Tage dort ist, dass sie einen schnell in ihren Bann ziehen kann.
Dabei drückt das erste Bild dieses Beitrags, das Graffiti, und das Letzte, die beleuchtete Stadtreklame, am Besten das Spannungsverhältnis der Stadt aus, wie wir es erlebt haben.
Zu erzählen wird sein vom Flanieren, von den Moscheen, dem jüdischen Friedhof, der Erinnerungskultur an Krieg und Belagerung, der muslimischen Altstadt und der Fahrt auf den Trebević zu einem ganz besonderen Lost Place.

„Sarajevo ist, wenn Du gar nicht weißt, wo Du zuerst hinschauen sollst…

Hätte mir noch vor 10 Jahren einer gesagt, dass ich mal im Sommerurlaub nach Bosnien und dort auch nach Sarajevo fahren würde, ich hätte ihn ausgelacht.Und doch bin ich genau dort. Und bin hingerissen.“
Vollkommen euphorisiert allein von den ersten Minuten, nachdem wir das Hotel im Stadtteil Bistrik auf der Südseite der Miljacka verlassen haben und uns Richtung Baščaršija aufgemacht haben, haue ich genau dieses Spotlight samt einem ersten Foto in die sozialen Medien.
Kreuz und quer führt uns der Weg durch die engen Gassen, wir schieben uns durch die Menschenmassen vorbei an Souvenir- und allerlei anderen Läden, Cafés, Bars, Restaurants, vorbei an Moscheen. Eindrücke aus dem Viertel sowie ein Blick auf die
Ferhadija Moschee sowie auf und in die Gazi Husrev-Beg Moschee folgen in eigenen Beiträgen.
Mich fasziniert dieser krasse Übergang zwischen Ost und West, zwischen Orient und Okzident mitten in Sarajevo. Dieser Übergang ist nicht nur durch unterschiedliche Straßenbepflasterung zu sehen, eine Linie markiert diese Grenze, die natürlich keine ist.
Denn die Menschen flanieren beiderseits dieser Linie, shoppen und schauen, trinken bosnischen Kaffee, Red Bull, einen türkischen Chai oder eine Cola; Bier allerdings nicht überall, denn in so manchem muslimisch geführten Restaurant oder Café östlich dieser Linie werden keine alkoholischen Getränke angeboten. Zeigt sich der Ostteil von alter, osmanisch geprägter Architektur geprägt, die bisweilen sehr hart auf die Moderne trifft, wie hier bei einem ehemaligen Hamam,…

präsentiert sich westlich dieser Linie der österreichisch-ungarische Einfluss, denn das Land war ja nach 1878 von den Habsburgern besetzt und 1908 annektiert worden und erst 1918 mit Ende des Ersten Weltkrieges zum Bestandteil des Königreichs Jugoslawien geworden.

Eine Hinterlassenschaft dieser Zeit ist zum Beispiel die Herz-Jesu-Kathedrale, vor der ein mächtiges Papst-Denkmal steht. Der überaus reisefreudige Johannes Paul II. war natürlich in Bosnien-Herzegowina. 1997 kam er in apostolischer Mission angeflogen, zwei Jahre nach Ende von Krieg und Belagerung – immer auch im Dienst des Katholizismus, um diesen zwischen der serbischen Orthodoxie und dem Islam zu positionieren.

Bedeutender aber als die Kathedrale ist das Alte Rathaus Sarajevos, das nach den großen Zerstörungen im Krieg ebenfalls wieder aufgebaut wurde. Für manche ist es eines der schönsten Gebäude der Stadt, wie ich immer wieder in Blogs und auf Reiseseiten im Netz lese.
Allerdings ist es gleichzeitig auch Zeugnis einer unglaublichen Großmanns- und Prunksucht der Habsburger. Und es ist   im pseudo-osmanischen Stil eine architektonische Anbiederung an Kultur und Architektur des okkupierten Landes. Nur eben nicht im geringsten authentisch. Fast erliege ich der Versuchung, von architektonisch-kultureller Aneignung zu sprechen. Soweit aber würde ich dann doch nicht gehen, es steht ja weder in Disneyland noch in Las Vegas.
Ein weiteres Überbleibsel der Habsburger-Zeit „prunkt“ über der Stadt: Eine alte Kaserne, ruinös, unter der Verwaltung der bosnischen Armee stehend, verfallen, ein Lost Place, das sicherlich seine fotografischen Reize hat – wenn es denn einem gelingt, sich Zutritt zu verschaffen.
Muss aber nicht sein. Ich habe keine Ahnung, wie entspannt man vor Ort auf Urban Explorers reagiert und ich möchte das auch nicht in Erfahrung bringen.
Es gehen Gerüchte, dass hier irgendwann mal ein Luxushotel entstehen soll, getan hat sich bisher nichts.


Was ich nicht außer Acht lassen will: Sarajevo ist bei all dem weder ein für Touristen zurecht gemachtes „Freilichtmuseum“ noch eine Ansammlung an Bau- und Kriegsruinen, die ja auch einen ganz eigenwilligen Reiz haben – Stichwort: Trümmertourismus.
Sowohl das Eine wie auch das andere kann man ohne weiteres in der Stadt finden. Schon klar.
Aber Bosnien-Herzegowinas Hauptstadt ist vor allem eine lebendige, eine pulsierende Stadt, in der man mit dem einen Ohr die Kirchenglocken hört, mit dem anderen den Muezzin, der zum Gebet ruft. Für mich ist es das erste Mal, dass ich live in einem islamischen Land die Rufe des Muezzins über die Stadt schallen höre: Mal von der einen, mal von der anderen Moschee.
Abends zum Beispiel erklingt direkt als wir an ihr vorbei spazieren der Ruf via Lautsprecher vom Minarett der verkehrsumbrandeten Muslihudin Čekrekčija Moschee herab. Morgens bei Sonnenaufgang höre ich ihn durchs geöffnete Fenster von der Kaisermoschee direkt neben dem Hotel.
Es ist nicht einmal 5 Uhr, mir kommt das ständige Gezänk hierzulande um Kirchenglocken und Lärmbelästigung in den Dörfern in den Sinn, meist ausgelöst von Zugezogenen, die sich das idyllische Landleben wohl etwas anders vorgestellt haben. Vielleicht ein wenig wie im Freilichtmuseum?

Ich drehe mich noch mal um, lasse den Muezzin Muezzin sein und hole mir noch zweieinhalb Mützen von Schlaf.
Denn nichts ist einfacher, als sich mit Dingen nicht zu beschäftigen, die einen selbst nichts angehen. Man muss das nur wollen.

Dass Sarajevo einst Schmelztiegel der Kulturen und Religionen war, davon zeugen nicht nur die Moscheen und die katholischen Kirchen. An der Mula Mustafe Bašeskije finden wir zum Beispiel eine wunderbare, sehr alte orthodoxe Kirche mit unübersehbaren Kriegsspuren im Turm…

und ein paar hundert Meter weiter gegenüber eines einstigen Prunkbaus das kleine Jüdische Museum, ursprünglich eine Synagoge. Es überrascht, dass Sarajevo einst eine große jüdische Gemeinde hatte, wovon in einem anderen Beitrag noch zu sprechen sein wird.

Einen fulminanten Ausblick über die Stadt hat man vom Berg Trebević, auch dazu wird es einen eigenen Beitrag geben. Da dieser sich aber auf ein anderes Thema fokussieren will, zeige ich hier schon mal die Sarajevska Pivara, die Brauerei im Stadtteil Bistrik von der Gondel auf den Trebević aus fotografiert. Wir erfahren, dass die Quelle der Brauerei während der 44monatigen Belagerung Sarajevos 1992 bis 1995 zeitweilig die einzige Trinkwasserversorgung der Stadt war. Unter Lebensgefahr haben die Menschen hier Wasser geholt, immer bedroht vom Beschuss der serbischen Belagerer vom Berg herunter.

Die Franziskuskirche – der Brauerei gegenüber gelegen – hat leider geschlossen. Es wird gerade eine Messe gelesen.

Der Blick über die Miljacka auf Sarajevos Altstadt zeigt von oben, was wir täglich durchstreifen.

Nun ist nicht alles Gold, was glänzt, wo viel Licht ist, ist auch reichlich Schatten. Das gilt auch für Sarajevo. Wer nur wenige Schritte von der herausgeputzten Flaniermeile oder dem Basar entfernt durch die Straßen geht, sieht ein ganz anderes Sarajevo, eine Stadt, die schwer vernarbt ist, sich noch lange nicht von Krieg und Belagerung erholt hat. Da sind wir dann ganz nah dran am Trümmertourismus.

Hier mache ich auch ein Foto von einem leeren Stuhl, schon wissend, dass ich in meine Social Media Spotlights, die ich täglich bei Facebook, Mastodon, Twitter und WhatsApp liefere, mit diesem Bild die  Reihe abschließen werde. Zu diesem Foto wird es auch noch mal einen eigenen Beitrag geben, der aber weniger mit unserer Tour zu tun hat, also auch nicht Bestandteil der Bosnien-Reihe sein wird.

„…diese Stadt ist ein Setzkasten europäischer Erinnerungsstücke, jede Epoche, jede Kultur hat ein Haus hingestellt, von Rom über christliches Mittelalter, jüdische Diaspora und türkische Besetzung. Österreich-Ungarn, Faschismus, Kommunismus, Kapitalismus und American Dream, Bürgerkrieg und europäische Integration.“ So beschreibt es Juli Zeh in Die Stille ist ein Geräusch: Eine Fahrt durch Bosnien und ich finde, sie bringt es exakt auf den Punkt.

Eine Frage, die mir schon während der Reise via Internet aber auch später oft begegnet, als ich von unserem Urlaub erzähle: „Ist das Land nicht furchtbar arm?
Ich kann das nicht beurteilen. In Bosnien-Herzegowina habe ich nicht mehr und nicht weniger Bettler gesehen als in München. Bettelnde Sinti und Roma, bettelnde Menschen vor Kirchen und Moscheen, an exponierten Plätzen und engen Durchgängen.
Ist das ein Indiz für Armut?
Dann wäre München auch furchtbar arm – zumindest rings um die Heilig-Geist-Kirche. Aber, wo viel Geld ist und viele Touristen herumlaufen, denen das Geld oft etwas lockerer sitzt, sind auch viele Bettler. Verfälscht das nicht auch das Bild, die subjektive Wahrnehmung?
Von mir bekommt der eine oder andere etwas Geld. Ich sinniere bei der Gelegenheit über das Wort Almosen, finde es nicht nur altbacken sondern auch konnotiert mit einer gewissen Herablassung des Gebers gegenüber den Empfänger. Aber natürlich muss man sich auch zu den meisten Bettlern herabbücken, ob man nun will oder nicht.

Den letzten Abend in Sarajevo, das schon als Vorgriff, verbringen wir auf der Žuta Tabija, der Gelben Bastion. Von dort hat man ebenfalls einen tollen Blick über die Stadt und sieht, wenn das Wetter mitspielt, einen fulminanten Sonnenuntergang. Auf die Idee kommen Abend für Abend viele Menschen – Menschen allen Alters und aller Religionen, jung und alt, Einheimische wie Touristen, holländische Pfadfinder wie deutsche Urlauber, Singles und Großfamilien.

Manche decken sich beim Kiosk mit Getränken ein, andere haben Picknickkörbe und Kühltaschen dabei, wieder andere holen sich Pizza und schleppen sie den Berg hoch. Leicht ist das Leben in solchen Momenten – oder könnte es doch zumindest sein. Das werde ich noch öfter in Bosnien und Herzegowina denken.
Einige Besucher können sich nicht satt sehen, andere nicht satt fotografieren. Der Blick schweift von den Hochhäusern des modernen Sarajevo ganz im Westen..

nach Bistrik und weiter…

über Baščaršija.

Einen Sonnenuntergang liefert der milchig trübe Himmel an diesem Abend allerdings nicht, allerhöchstens eine Ahnung davon.

Aber das ist egal, denn ich habe mein Herz längst (auch) an diese Stadt verschenkt.

PS: Heilig geschworen: Die nächsten Beiträge werden kürzer!

Tipp/Info für Nachahmer*innen (eigene Erfahrung, Stand 2023):
Bosnien und Herzegowina gehört nicht zur EU, das hatte ich bereits erwähnt. Das heißt aber, dass für die Nutzung mobiler Daten kräftig Gebühren anfallen. WLAN hatten wir in allen Hotels, zumeist gut und schnell, manchmal hinter einem Passwort, manchmal nicht.
Viele Restaurants haben auch WLAN, auf der einen oder anderen Speisekarte fanden wir den Hinweis dazu, denn dieses WLAN ist meistens unter Verschluss. Fragen hilft, gern auch, den Service das Passwort selbst eintippen zu lassen.
Mit viel Glück findet man auch mal ein offenes, „fremdes“ WLAN“ eines Hotels in unmittelbarer Nähe zum Restaurant. Und wenn nicht: Machen Sie es wie früher: Handy weglegen, einen Kaffee oder Tee genießen und den Leuten beim Flanieren zuschauen – zur Not kann man sich auch mal unterhalten. Ging ja früher auch.

Alle Teile:
Ankündigung
01: Banja Luka
02: Kozara Nationalpark
03: Der Familienfriedhof im Wald
04: Jajce
05: Die Mlinčići am Pliva See / Zenica
06: Sarajevo, eine erste Annäherung
07: Sarajevo, Baščaršija
08: Sarajevo, auf dem Trebević
09: Sarajevo, zwei Moscheen
10: Sarajevo, der alte jüdische Friedhof
11: Sarajevo, die einst belagerte Stadt
12: Auf dem Weg in die Herzegowina
13: Mostar, die alte Brücke
14: Mostar, Stadtrundgänge I
15: Mostar, Stadtrundgänge II
16: Blagaj
17: Weiter gen Osten
18: Sutjeska Nationalpark
19: Tjentište, der Außenpool
20: Tjentište, das Theater am Ende der Welt
21: Trebinje
22: Die Bogomilen Nekropole Radimlja
23: Počitelj
24: Studenci, die Kravica Wasserfälle
25: Nordwestwärts
26: Una Nationalpark
Epilog: Nur ein Stuhl?


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