Mediatipps (Teil 36): „Die Stille ist ein Geräusch: Eine Fahrt durch Bosnien“ von Juli Zeh

Ist das noch ein Sachbuch, ein Reisebericht? Oder ist das ein Roman? Die Grenzen sind fließend, aber letzten Endes ist das auch egal. Es ist nicht das erste belletristische Werk in meinen Lesetipps. Aber das erste von Juli Zeh, das hier Erwähnung findet. Und das, obwohl die Autorin häufig und heftig nach ihren Interviews kritisiert wird und die Nennung ihres Namens bei einer bestimmten Klientel allein Abwehrreflexe auslöst. Denn Zeh eckt an mit ihren Ansichten und Gedanken. Aber darum geht es hier nicht. Ganz abgesehen davon interessiert es mich sowieso nicht, welche Autoren und Autorinnen laut Tugendspiegel sozialer Medien jetzt nicht mehr gelesen werden sollen, weil sie irgendwo irgendetwas von sich gegeben haben.
Es geht hier um Zehs zweites Buch 2003 erschienen, in denen sie romanhaft eine Reise durch Bosnien erzählt – ihre Reise bzw. Reisen, denn das Buch verdichtet in einer, was sie selbst in zweien erlebt hat. 2001 durchreiste sie das Land, sechs Jahre nach dem Abkommen von Dayton, dem Friedensvertrag, der einen dreieinhalb Jahre andauernden blutigen Krieg beendete. Nur mit Rucksack, Hund und Mietwagen lässt sie sich, da muss sie Ende zwanzig gewesen sein, kreuz und quer durch Bosnien treiben: Sarajevo, Mostar, Tuzla, Srebrenica…
Orte, wie man sie, wenn man ein wenig älter ist, Mitte der 90er permanent in den Nachrichten gehört hat und auch später in den Kriegsverbrecherprozessen in Den Haag, wenn darüber berichtet wurde. Orte des Krieges, des Grauens, Orte schwerster Kriegsverbrechen und Völkermorde, Orte der Verwüstung. Und all deren Spuren waren, als Zeh vor etwas über 20 Jahren Bosnien bereiste, überall zu sehen. Kein Schritt von der befestigten Straße, nicht mal wenn die Blase drückt und sie dringend mal anhalten muss, um hinter einem Gebüsch zu verschwinden, ohne die allgegenwärtige Gefahr, dass der Boden mit Landminen übersäht ist. Und so hockt sie sich, auch davon schildert sie, trotzig mitten auf die Straße. Es ging eben nicht anders.
Aber da sind auch die Schilderungen über ein wildes, ungestümes Land, das den Anschluss an Europa wiederfinden will, das feiernd den gerade beendeten Krieg wenigstens für einen Moment vergessen will, auch wenn internationale Truppen und UNO allgegenwertig sind und einen überaus fragilen Frieden zu sichern helfen. Denn die Ressentiments sind und bleiben, Bosnier, Serben, Kroaten, Muslime, Katholiken, Orthodoxe – es war eben nicht egal, zu welcher Volksgruppe man gehörte und zu welcher Religion.
Auch nicht in den Jahren nach dem Krieg. Da gab (und gibt) es viel aufzuarbeiten. Und eines der Leitfragen in diesem Buch, warum es diesen Krieg eigentlich gegeben hat, bleibt unbeantwortet, so wie es auch heute als Außenstehender, der das alles nur aus den Nachrichten kennt, schwer nachzuvollziehen ist, selbst wenn man sich mit dem Zerfall des ehemaligen Jugoslawien immer wieder beschäftigt hat.
Die zweite Leitfrage des Buches, warum es in Bosnien keinen McDonald’S gibt, hatte sich mit der Zeit erledigt. Der Burgerbrater hielt Einzug in das kleine Balkanland, verabschiedete sich, wie ich mittlerweile weiß, dort aber wieder. Die fünf Filialen (drei in Sarajewo, je eine in Tuzla und Banja Luka) schlossen Ende 2022. Damit ist die Frage aber letztlich auch beantwortet: Die Schlacht gegen die heimischen Ćevapi hat McD verloren.
Auch die dritte Frage, wo eigentlich die ganzen Melonen wachsen, die überall in Bosnien zum Verkauf angeboten werden, hat Juli Zeh unbeantwortet wieder mit nach Hause genommen. Ich hoffe allerdings, auch da eine Antwort zu finden, denn in Bälde werden wir das Land selbst bereisen und Ausschau danach halten.
Das nämlich ist der Grund, warum ich überhaupt auf dieses Buch gestoßen bin. Die Such nach geeigneten und aktuellen Reiseführern, die auch ein wenig ins Detail gehen, verlief eher spärlich. Bosnien, kaum größer als Hessen, hat zwar touristisch enorm viel zu bieten, nur fließen die großen Touristenströme an dem Land eben vorbei bzw. bleiben im benachbarten Kroatien mit seiner endlos langen Mittelmeerküste hängen. Das nämlich bietet Bosnien kaum. Dafür Seen, Gebirge, Flüsse, Naturparks, alte Städte – Gegend. Verdammt viel Gegend.  Zusätzlich zu den wenigen Reiseführern wird mir immer wieder dieses Buch empfohlen, irgendwann kann ich mich dem nicht mehr erwehren und bestelle es bei meinem Local dealer, meiner Lieblingsbuchhandlung.
Es ist schnell gelesen, im Gegenteil drossle ich den Lesefluss sogar ein wenig, um etwas länger etwas von dem Buch zu haben. Denn auch wenn Juli Zehs Reise über zwanzig Jahre her ist, die Eindrücke heute ganz anders sein dürften: Mit jeder Seite steigt die Lust auf diese, die eigene Rundreise und die Neugier auf das Land. Auch wenn wir natürlich nicht mit Hund und Rucksack unterwegs sind, nicht in improvisierten Hotels übernachten müssen, uns nicht der Hilfe der dort stationierten internationalen Truppen versichern müssen, um überhaupt irgendwohin zu kommen und vermutlich auch nicht mehr im Zweifel mitten auf der Straße pieseln müssen…

Wie es dann in Bosnien wirklich war, wohin es uns treiben wird, was wir uns anschauen davon werde ich später sicher noch viel erzählen. Vorerst steht die Reiseroute noch nicht so genau fest und bei jedem Kapitel und jedem Ortsnamen, den Juli Zeh nennt, muss ich Google Maps befragen, wo das genau ist und ob das vielleicht in unsere Tourplanung hineinpassen könnte: Liegt Stolac auf dem Weg? Wo ist Ravno und wo Jajce? Das eine oder andere werden wir vor Ort in Erfahrung bringen…

 


Jetzt hier kaufen (Das Buch gibt es aber auch über die ISBN bei Ihrem Buchhändler):

Zeh, Juli: Die Stille ist ein Geräusch: Eine Fahrt durch Bosnien

Gebunden / 272 Seiten / Verlag: btb/Goldmann / Erschienen 01.10.2003 / Sprache: Deutsch
ISBN-13
978-3442731046

Preis: 20,00 €

Auch als Kindle-eBook erhältlich


Lust auf mehr Mediatipps?
Hier finden Sie eine Liste aller Beiträge samt Verlinkung:
Die Serien dieser Seite im Überblick.


Vielen Dank fürs Lesen.
Wenn Ihnen dieser Artikel gefallen hat, dann freue ich mich, wenn Sie ihn Ihren Freunden weiterempfehlen – z.B. über Facebook, Twitter, in Internetforen, Facebookgruppen o.ä.
Gern dürfen Sie den Artikel auch verlinken.

Diesen Beitrag weiterempfehlen:

Entdecke mehr von Mal Zwetschgenmann - Mal Wassermann

Jetzt abonnieren, um weiterzulesen und auf das gesamte Archiv zuzugreifen.

Weiterlesen