Bosnien – Eine Reise (17): Weiter gen Osten

Irgendwie war das klar, dass genau das wieder passieren würde.
Als wir Mostar Richtung Osten verlassen, um nach Tjentište in den Sutjeska-Nationalpark zu fahren, passieren wir kurz hinter der Grenze der Konföderation und der Republika Srpska den kleinen Ort Nevesinje. Für einen Sonntag Vormittag herrscht dort ein ungewöhnliches Polizeiaufgebot. Polizisten in Uniform stehen in Gruppen auf den Straßen, eher gelangweilt, als warteten sie auf etwas. Mehrere Fahrzeuge stehen unter Blaulicht am Straßenrand. Es ist ganz offensichtlich, dass hier gerade nichts passiert, aber vielleicht irgendwann passieren wird, was auch immer. Es soll uns weder interessieren noch beeindrucken, wir passieren Nevesinje und schlagen uns über Land weiter nach Osten.
Hier herrscht Agrarland vor, Felder, Weiden, kleine, verschlafene Dörfer, am Horizont Hügel und Berge. Sommerliche Wärme steht über der Gegend obwohl es noch relativ früh ist. Ein Straßenschild erregt unsre Aufmerksamkeit, in Kifino Selo geht links kleine Straße ab. Es ist ein Hinweis auf die Некропола стећака „Калуфи, stände nicht irgendetwas von Nekropola sa stećcima Kalufi darunter und fett daneben die Buchstaben UNESCO, es hätte uns wohl nicht weiter interessiert.
Das aber weckt unsere Neugier. UNESCO: Das heißt, irgendetwas mit Kultur, Nekropola lässt sich leicht als Nekropole, also Stadt der Toten übersetzen. Von den vielen Nekropolen in Bosnien habe ich gelesen, sie stehen auf meinem Zettel, das will ich sehen. Warum nicht gleich hier und jetzt?
Also kehren wir um zu dem Hinweisschild und biegen von der Durchgangsstraße ab. Es geht über eine schmale Straße zu mehreren Weilern, wir kommen an einen Abzweig, an dem nicht offensichtlich ist, welches nun die Straße zur Nekropole ist, ein weiteres Hinweisschild fehlt.
Dafür merken wir schnell, als wir uns lins halten, dass das der falsche Weg ist, er führt nur zu einem Gehöft. In einigen hundert Metern sehe ich ein großes weißes Kreuz auf einem Hang. Das gehört zwar nicht zu einer Totenstadt, trotzdem. Also umkehren.
Erstaunlich viel Verkehr ist auf diesen kleinen Sträßchen ins Nirgendwo.
Wir finden den richtigen Weg, einen Wanderparkplatz mit Picknickbänken und steigen aus.
Hier könnten wir richtig sein. Weitere Autos kommen, ein Fahrer hält an, fragt uns etwas, was wir nicht verstehen, erkennt, dass wir keine Ahnung haben, winkt ab und fährt weiter. Immer diese Ausländer überall… sogar im hinterletzten Eck im Gebüsch.
Ein kurzer Spaziergang führt uns auf die andere Seite der Straße zu im Boden liegenden Steinplatten und einem großen, fast rechteckigen Klotz. Hier sind wir definitiv richtig.

Ein paar Schritte wage ich hinein in die Landschaft, zwischen und hinter die Büsche, will schauen, ob wir von dieser Anhöhe aus einen schönen Ausblick haben, will schauen, ob es noch ein paar schöne Schmetterlinge zu sehen gibt, von anderen Tieren, etwa einer Schildkröte, Schlange oder gar einem Scheltopusik wage ich gar nicht mehr zu träumen. Ich sehe auch nichts davon. Nicht eine Sekunde lang denke ich in diesem Moment daran, dass wir uns in Bosnien und Herzegowina befinden, in diesem Land herrschte Krieg, in diesem Land wurde die Erde vermint. Hier auch?
Das fällt mir erst Tage später wieder ein, als ich das erste Warnschild vor Minen im Vorbeifahren an einem Waldstück am Straßenrand entdecke.


Noch immer kommt Auto um Auto. Gibt es hier eine Freizeitanlage für einen Sonntagsausflug. Wir schicken uns an, der Straße zu folgen.
Da ertönt aus nächster Nähe lauter Gesang, kein einstudierter Chor, keine Begleitmusik dazu. Findet etwa ein Feldgottesdienst am großen Weißen Kreuz?
Das könnte gut sein. Also sind wir hier definitiv doch nicht richtig. Nicht, weil es hier doch keine Nekropole gibt sondern weil wir als Fremdlinge bei solchen Veranstaltungen eher stören, eher nicht dorthin gehören.
Unbehagen macht sich breit und wir entscheiden, die Nekropole Nekropole sein zu lassen und umzukehren. Totenstädte werden wir später noch erkunden.
Als wir den kleinen Hang herunterfahren, uns weitere Autos entgegenkommen, zieht rechts von uns eine Schafherde ebenfalls den Hang hinab.

In einer Kurve sammeln sich die Tiere, grasen unbeirrt weiter. Einige betreten die Straße.
Fahrzeuge kommen uns entgegen, wir tun gut daran, in die kleine Ausweichbucht zu fahren, denn plötzlich kommt uns ein ganzer Tross entgegen. Eskortiert von mehreren Polizeifahrzeugen mit Blaulicht (aber ohne Sirenen) fahren schwere, schwarze Limousinen mit getönten Scheiben an uns vorbei.
Und damit ist schlagartig klar, was das Ganze hier ist: Ein Politiker oder mehrere sind auf dem Weg zu einer Wahlkampfveranstaltung an einem Ehrenmal (das ich später auf Google Maps finde), unter Schutz der Polizisten, die in Nevesinje offenbar auf den Konvoi gewartet haben. Es ist Wahlkampf in Bosnien und Herzegowina und da lässt man sich wohl an irgendwelchen bedeutungsschwangeren Orten wie Ehrenmälern blicken, zumindest in der Republika Srpska (in Bayern zieht man ja lieber durch die Bierzelte).
Während wir also die Fahrzeuge passieren lassen, beobachte und fotografiere ich die Schafe, die sich direkt neben unserm Auto sammeln, die wollen wohl auf die andere Straßenseite und müssen ebenfalls warten. Vom Hang her stapft der Schäfer herunter, ruft laut und wenig freundlich irgendetwas Unverständliches, was sowohl auf die Politiker und Polizei gemünzt sein kann oder eben auf uns, speziell mich, weil ich seine Tiere knipse.
So what?
Er schreit weiter, wir fahren, bevor er neben dem Wagen steht, ich habe keine Lust auf Diskussionen, die angesichts der vermutlichen Sprachbarrieren ohnehin fruchtlos verlaufen würden. Der Tross ist um die nächste Kurve verschwunden, die Schafe stehen immer noch am Straßenrand und blöcken.
Später und zurück auf der Hauptstraße beglückwünschen wir uns, dass wir wieder einmal unvermittelt und ahnungslos fast in eine Veranstaltung hineingeplatzt wären, aber rechtzeitig den Rückzug angetreten haben. Und ich freue mich über Schaffotos, so, als könne ich die nicht auch zu Hause machen. Aber eben keine von bosnischen, serbischen oder sonstwas an Schafen.

Das soll es dann auch erst mal gewesen sein mit Zwischenstopps. Etwa 10 Kilometer vor der Grenze zu Montenegro liegt die kleine Gemeinde Gacko. Sie wäre nicht weiter erwähnenswert, es ist ein Ort zum Durchfahren und dann, um nach Norden abzubiegen. Ich kann mir schwer vorstellen, dass es hier etwas Sehenswertes gibt, da entdecke ich nicht nur eine riesige Kiesgrube am Ortsrand, sondern kurz darauf auch ein mächtiges Kraftwerk. Die Kiesgrube ist gar keine, es ist ein Braunkohletageabbaugebiet und die Kohle wird postwendend im Kraftwerk verstromt. So riecht es dann auch. Über Gacko hängt ein Geruch in der Luft, der uns sofort bekannt vorkommt: „So roch es in Ost-Berlin auch immer, damals zu DDR Zeiten.“An der Straße, die uns an dem Kraftwerk vorbeiführt, stehen Fotografieren verboten Schilder, aber hinter der Ortsgrenze von Gacko halten wir dann doch noch einmal an, werfen einen Blick zurück und das macht meine Kamera tatsächlich auch. Gilt das Verbot hier oben überhaupt noch?

Längst habe ich auf Google Maps den Jezero Klinje entdeckt, einen etwa 26 Hektar Stausee oberhalb von Gacko. Seit Ende des 19. Jahrhunderts gibt es ihn, er ist eine „Hinterlassenschaft“ aus österreichisch-ungarischer Zeit, jetzt ein ambitioniertes Zielobjekt der Republika Srpska, hier ein höchst attraktives Touristenziel zu schaffen für alle Arten von Wassersportlern. Geschehen allerdings ist bisher nichts.
Zwei Parkplätze gibt es (den ersten nehmen wird) mit Kiosken und ein paar überdachten Bänken, ein Betonufer, einen eher baufälliger Badesteg und einen Sprungturm. Aber es gibt noch etwas: Unfassbar türkisblaues Wasser, wenig Menschen und die immense Sehnsucht, sich die Sachen vom Leibe zu reißen und hineinzuhüpfen.
Das eine mache ich (hineinhüpfen, obwohl ich dann doch lieber die Treppe nehme), das andere nicht, nämlich mir die Sachen vom Leibe zu reißen. Ich entkleide mich auf eher konventionelle und weniger stürmische Art.

Ich bin sogar ein wenig froh, nicht gehüpft zu sein, das Wasser in dem künstlichen See ist erstaunlich frisch. Zwar knallt die Sonne vom Himmel, zwar sind wir etwas südlicher als Split, 70 Kilometer nordöstlich von Dubrovnik und damit ungefähr gleicher Breite wie Peruiga in Italien oder Marseille in Frankreich. Aber wir sind fast unbemerkt mittlerweile bei etwa 1.100 Meter über dem Meeresspiegel. Das ist höher als der Walchensee in Bayern – und von dem weiß man ja, wie arschkalt der ist, wobei wir hier keineswegs Äpfel mit Birnen vergleichen wollen.
Gefühlt und ungemessen bringt es der Stausee auf etwa 23 °C, stellenweise etwas mehr, an anderen etwas weniger. Das hält die Verweildauer ein wenig in Grenzen, aber zum Einen wollen wir heute ja noch weiterkommen, zum anderen sitzt meine Frau oben im Schatten, wartet und bewacht den Autoschlüssel.
Während ich schwimme, mehrt es sich zunehmend am Ufer, sowohl auf der Betonplatte als auch auf der Badeinsel. Den Vormittagsbesuchern, älteren Herrschaften sind die Familien gefolgt und auch die ersten Teenager und jungen Erwachsenen schlagen in Gruppen auf. Ganz wie daheim am Weiher.
Kleine Fische sammeln sich im flachen, warmen Wasser am Ufer, ein paar Kinder finden das spannend, andere eklig. Auf der Badeinsel wird Posing groß geschrieben, lautstarkes Gerangel und Gekreische, wenn man sich gegenseitig ins Wasser schubst, ein kleines Kind läuft weinend mit einem aufgeschlagenen, blutenden Knie zu seiner Mama, die es tröstet. Einige brüsteln unbeirrt ans gegenüberliegende Ufer, einige kraulen ein paar hundert Züge. Junge Männer liegen neben einem Korb voller Bierflaschen in der Sonne und hören Musik, ein paar Motorradfahrer sitzen halb von ihrer Lederkombi entblößt auf einer Bank und rauchen. Es ist wie überall sonntags am See, die Menschen genießen den freien Tag und den Sommer.
Warum sollte es auch ausgerechnet hier anders sein?
Und ich finde das schön.

Zurück im Auto geht es nun nun stopp nach Norden, parallel zur Grenze nach Montenegro und in immer wildere Landschaften; Brücken wechseln sich mit Tunnel, die Berge werden höher und steiler. Wir sind im Gebirge.

Weit ist es nach Tjentište im Sutjeska Nationalpark nicht mehr. Wieder liegt die Kamera griffbereit, ich versuche, durch die leider etwas verdreckte Windschutzscheibe zu fotografieren, denn Haltebuchten gibt es nur wenige. Und wenn, dann nicht unbedingt dort, wo ich ein Foto machen möchte. Das Bild-Ergebnis ist eher durchschnittlich, aber einfach auf freier Strecke auf den engen Straßen anzuhalten, ist ganz sicher keine besonders kluge Idee, wir sind ja auch nicht die Einzigen. Die Straße führt über Tjentište weiter Richtung Višegrad oder eben Sarajevo. Mostar, Tjentište und Sarajevo bilden auf der Landkarte ein relativ gleichseitiges Dreieck.

Hinter jeder Kurve, nach jedem Tunnel denken wir: „Weit kann es nun nicht mehr sein!“

 

Und das ist es auch nicht.

Tipp/Info für Nachahmer*innen (eigene Erfahrung, Stand 2023):
Muss man nicht Angst vor Minen haben, die noch irgendwo im Boden liegen könnten?
Das kann ich nicht beurteilen. Wir hatten keine Angst.
Das mag daran liegen, dass wir uns nie querfeldein bewegt haben – eigentlich nie vom Weg selbst abgewichen sind, von winzigen Ausnahmen einmal abgesehen. Mit fällt Juli Zehs Reiseroman ein, geschrieben kurz nach dem Krieg, als sie bei einer Fahrt anhält, weil sie dringend aufs Klo muss. Was bleibt? Auf offener Straße hinhocken oder vielleicht sich hinter den Busch in möglicherweise vermintes Gebiet zu begeben.
So ist es ganz und gar nicht mehr. Die meisten Minenfelder sind geräumt. Warnschilder sieht man nur noch ganz vereinzelt, weitaus weniger als noch vor einigen Jahren in Kroatien im Großraum Zadar.
Dort, wo andere Autos fahren oder auf Waldwegen in Nationalparks besteht nun wirklich keine Gefahr mehr. So dachten wir und so handelten wir.

 

Alle Teile:
Ankündigung
01: Banja Luka
02: Kozara Nationalpark
03: Der Familienfriedhof im Wald
04: Jajce
05: Die Mlinčići am Pliva See / Zenica
06: Sarajevo, eine erste Annäherung
07: Sarajevo, Baščaršija
08: Sarajevo, auf dem Trebević
09: Sarajevo, zwei Moscheen
11: Sarajevo, die einst belagerte Stadt
12: Auf dem Weg in die Herzegowina
13: Mostar, die alte Brücke
14: Mostar, Stadtrundgänge I
15: Mostar, Stadtrundgänge II
16: Blagaj
17: Weiter gen Osten
18: Sutjeska Nationalpark
19: Tjentište, der Außenpool
20: Tjentište, das Theater am Ende der Welt
21: Trebinje
22: Die Bogomilen Nekropole Radimlja
23: Počitelj
24: Studenci, die Kravica Wasserfälle
25: Nordwestwärts
26: Una Nationalpark
Epilog: Nur ein Stuhl?


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3 Antworten

  1. Holger sagt:

    „Nekropola lässt sich leicht als Nekropole, also Stadt der Toten übersetzen“

    Polis wird von altgriechisch πόλις pólis abgeleitet und mit „Stadt / Staat“ in die deutsche Sprache übersetzt. Was die Toten betrifft, die lassen sich gemäß den Mythologien beschwören. Totenbeschwörung heißt in der Fachsprache Nekromantie. In der griechischen Mythologie ist Hekate die Göttin der Nekromantie -> https://www.mythologie-antike.com/t3-hekate-in-der-griechischen-mythologie

    • Lutz Prauser sagt:

      Vielen Dank für den Hinweis.
      Teil 22 zeigt dann noch eine richtige und wie ich fand sehr eindrucksvolle Nekropole.
      So ganz trifft der Begriff die Sache allerdings nicht, denn es sind christliche Begräbnisstätten mit quader- und hausförmigen Grabsteinen. Damit haben wir es eher mit klassischen Friedhöfen als mit echten Nekropolen zu tun, denn es ist kein Wohnort, der den Toten errichtet wurde, dass sie dort „weiterleben“ bzw. ihre Seelen dort verweilen könnten. Das deckt sich nicht mit christlichen Jenseitsvorstellungen.

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