Als Tourist daheim (15): In der Augsburger Fuggerei

Augsburger Fuggerei

0,89 € kostet die Miete in der Fuggerei – wohlgemerkt per anno. On Top kommen nur die Nebenkosten. Man wohnt eigentlich umsonst. Das ist so attraktiv, dass die Interessent:innenliste enorm lang ist.
Voraussetzung, eines der kleinen, uralten Häuschen zu ergattern, ist allerdings der Nachweis der Bedürftigkeit. Das war schon immer so – seit 1521 in Augsburg die Fuggerei gebaut wurde. Gestiftet hat die Jacob Fugger, der Reiche, der dann auch gleich noch zwei weitere Bedingungen definierte, die erfüllt sein bzw. werden müssten, wollte einer eines dieser kleinen Häuser beziehen.
Nicht nur bedürftig, auch katholisch muss man sein. Und ganz wichtig; Dreimal am Tag für das Seelenheil Fuggers beten.
Heute ist die älteste Sozialsiedlung der Welt eines der beliebtesten Ziele für Tourist:innen in Augsburg. Und genau das ist wohl der Haken an der Sache:
Wer seine 8 € Eintritt am Tor bezahlt, darf in dem halben Dutzend Gassen flanieren, sich im kleinen Biergarten verköstigen, durch das Museum oder den kleinen Garten schleichen und sich in aller Ruhe alles ansehen.
Die Fuggerei ist heute noch immer zu den oben genannten Konditionen bewohnt, und die dort lebenden Menschen könnten schnell als Statist:innen des Ganzen angesehen (werden sie vielleicht auch) – oder als Bewohner:innen eines Freilichtmuseums, Themenparks oder Menschenzoos.
Es mutet etwas komisch an, und wer mit seinem Eintritt meint, gewisse Rechte dort erworben zu haben, nämlich zu spazieren, in die Fenster und Gärten zu schauen oder auf der Bank Platz zu nehmen, der muss per Schildchen informiert werden, die Sitzplätze ggf. für Fuggereibewohner:innen wieder zu räumen.

Bankerl in der Fuggerei

Immerhin ist der Altersdurchschnitt der Menschen, die dort leben über 70, wie ich aufschnappe, als eine geführte Gruppe vorbeistapft, da braucht es Sitzgelegenheiten. Bei schönem Wetter dürfte am Wochenende die Zahl der Besucher:innen die der dort Lebenden weit übersteigen und wer nicht im Gärtlein vor dem Haus besichtigt werden möchte, tut vermutlich gut daran, dann entweder nicht daheim zu sein oder sich im Häuschen zurückzuziehen.
Die Häuser sind klein und alt, von außen topsaniert, wie es heute innen aussieht, erfährt man nicht, Bäder gibt es laut Wikipedia erst seit 1973.
Aus gutem Grund sind alle Türen zu, alle Fenster gardinenverhangen.

Gardinenverhangenes Fenster in der Fuggerei

Lediglich im zum Museum umfunktionierten Gebäude kann man sich ansehen, wie es früher dort aussah und sich über die Geschichte der Fuggerei kundig machen. Wer dort aber aus dem Fenster des Museums auf die Gasse schaut, sieht den nicht abreißenden Strom der Besucher:innen vorbei flanieren. Das ist dann wohl…

Besucherinnen in der Fuggerei

„Part of the deal“, wie man heute sagt.

Es ist einigermaßen anspruchsvoll, in der Fuggerei so zu fotografieren, dass ich möglichst wenig oder gar keine Menschen auf den Bildern habe – weder Bewohner:innen noch Besucher:innen. Nicht immer gelingt das, trotz geduldigen Wartens. Das aber gibt mir ein wenig das Gefühl, wie sich vielleicht die eine oder der andere, der dort lebt und am Wochenende gern seine Ruhe hätte, fühlen muss. Oder haben sich die Menschen längst daran gewöhnt?

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Am Ende kommen eben immer die Tourist:innen…

Unbeachtet von den meisten Besucher:innen liegt in einer der Gassen ein Stolperstein: Aloisa Kempter lebte einst hier. Durchaus bedürftig wie ihre ganze Familie, wie…

Stolperstein in der Fuggerei

ich in ihrer kurzen Biographie im Gedenkbuch der Stadt Augsburg nachlese. 1940 wurde die geistig behinderte Frau, mittlerweile verwaist, in die Heileinstalt Kaufbeuren eingewiesen, da sie sich nicht allein versorgen konnte, dann nach Hartheim bei Linz verlegt, wo sie 1941 ermordet wurde. Sie war eines von über zweihundertausend Opfern der Aktion T4, in der Behinderte überall im Dritten Reich weil „minderwertig und unnütz für die Volksgemeinschaft“ in Pflegeheimen systematisch umgebracht wurden.

Ein paar Meter weiter steht das Haus, in dem Dorothea Braun wohnte. 1625 wurde sie als Hexe in Haft genommen. Da sie unter schwerer Folter gestand, wurde sie verurteilt und am gleichen Tag erst enthauptet und anschließend verbrannt. Angezeigt hatte sie ihre eigene, erst elfjährige Tochter.

Das Gute und das Furchtbare, das Menschen widerfahren kann, liegen so nah beieinander.


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1 Antwort

  1. Nati sagt:

    Ein hoher Preis den man dort zahlt, wenn man quasi nur bei schlechtem Wetter und Nachts seine Ruhe hat.

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