Bosnien – Eine Reise (16): Blagaj

So ein Derwisch hat es ja auch nicht leicht: Immer nur tanzen, tanzen, tanzen. Wie ein Irrer, in Trance, bis zur Ektase oder Besinnungslosigkeit. Und dann umfallen – völlig erschöpft aber glücklich.
Wie schnell man doch in seinem Kopf Stereotype abrufen kann, die einfach gar nichts mit der Wirklichkeit zu tun haben. Denn was weiß einer schon wirklich über Derwische außer genau diesem Klischee?

Südlich von Mostar in Blagaj befindet sich ein weiterer Hotspot, ein Must See unserer Rundreise: Ein Derwisch-Kloster, und das hat – welch Wunder? – keinen Tanzsaal. Womit mit diesem Klischee schon mal aufgeräumt ist.

Blagaj - Derwischkloster

Dìeser Ort, so schön es dort  ist, besitzt einfach alles, was man sich als Tourist so vorstellt:
Zunächst oben im Dorf Einen großen, gebührenpflichtigen Parkplatz, was bedeutet, dass alles, was links und rechts im Ort bzw. was vor diesem Parkplatz liegt, nach wie vor einem tourismusbefreiten Dämmerschlaf unterzogen ist. Dazu gibt es weitere Parkplätze in Privathand, denn jeder, der nur ein paar Quadratmeter Grund hat, vermarktet diesen gewinnbringend an die Autofahrer, übrigens plus WLAN (geile Kombi: Parkplatz plus WLAN). Es gibt den obligatorischen 600 Meter langen Fußweg, der trotzdem immer wieder befahren wird, weil einige denken, man könne vielleicht direkt vor dem Loch doch noch sein Auto abstellen. Der Weg ist gesäumt mit Souvenir- und Getränkeständen. Ganz so, wie es sich gehört, wird jede Garageneinfahrt zum Shop. Im Schatten der Mauer strecken auf dem Boden kauernde Bettlerinnen ihre Hände aus, es sind nur Frauen, manche mit kleinen Kindern auf dem Schoß.
Unten angekommen befinden sich hübsch mit Blumen dekorierte Restaurants am Ufer der Buna. Man offeriert fangfrische Forellen aus den Teichen neben dem Fluss oder eben alles andere, was es an regionaler Küche gibt. Platz gibt es auf den Gastroterrassen reichlich, dazu grummelige Kellner, man ist auf Bustourismus und Massenabfertigung eingestellt.

Blagaj - Der Fluss Buna
Blagaj - DerwischklosterUnd dann gibt es  eben ganz am Ende das, was alle sehen wollen: Das Derwisch-Kloster samt weiterer Bewirtungsterrasse und dem obligatorischen „Exit through the gift shop“.
Es ist beruhigend, dass es wohl in allen anderen Ländern der Welt das nahezu gleiche Setting ist, wenn es etwas Besichtigenswertes in der Region gibt. Und das ist auch in Ordnung so. Das ist identitätsstiftend, man fühlt sich sofort wieder als das, als was man hergekommen ist: Als Tourist. Unter Touristen. Als Gleicher unter Gleichen. Unter vielen Gleichen. Sehr vielen.
Das ist keineswegs zynisch oder böse gemeint. Wer solche Orte besucht, und auch darum sind wir hergekommen, der muss damit rechnen. Jeder hat schließlich das Recht, solche Hotspots zu besuchen; nicht nur wir.

Blagaj ist etwa 20 Autominuten von Mostar entfernt, wir planen einen Tripp dorthin, kehren danach aber wieder an die Neretva zurück, wir wollen nicht wieder das Hotel wechseln.
Früh am Morgen fahren wir also nach Blagaj, vielleicht noch bevor der große Ansturm das Kloster erreicht, vielleicht auch, weil es dann noch einigermaßen kühl ist, vielleicht auch, weil man ab einen gewissen Alter nicht mehr bis Ultimo in den Betten liegt und auch die Frühstückszeit im Hotel begrenzt ist.
Der offizielle, wahre Grund ist natürlich ein anderer: Es ist bei mir gute Familientradition, sich lange im Vorfeld zu sorgen, wo man sein Auto parkt und wer kann schon wissen, ob es in Blagaj ausreichend Abstellplätze geben wird, vor allem einen im Schatten. Rechtzeitiges Erscheinen sichert eben auch die besten Parkplätze.

Das stimmt natürlich nicht, die wirklich wahre Wahrheit ist, dass wir uns nach dem Klosterbesuch noch etwas Anderes anschauen möchten. Nur was?
Aber jetzt sind wir erst mal hier, zahlen unseren Eintritt und sind froh, dass wir uns im Vorfeld informiert haben – meine Frau hat einen langen, dünnen Schal dabei, der als Kopftuch fungiert, wir tragen lange Hosen, das erspart uns das Umbinden einer Schürze, bevor wir das kleine Kloster betreten. Nirgends sonst waren die Kleidervorschriften so strikt und nirgendwo sonst wurde auch so diskussionslos darauf geachtet. Manch junger Bursch findet es gar nicht cool, in bodenlanger Schürze herumzulaufen, aber da muss er eben durch. Oder draußen warten.
Warten muss ich auch. Immer wieder, denn ich möchte die Räume, die Decken, Möbel und Fenster ohne andere Menschen fotografieren. Das ist hier ein besonders schwieriges Unterfangen, denn ich habe selten so viele auch so rücksichtslose Menschen in diesem Urlaub erlebt wie hier. Es ist nicht nur ein Drängen und Schieben, Rempeln und Vorbeizwängen. Es ist vor allem ein Foto Bombing, die fehlende Bereitschaft, nur einen kleinen Moment zu warten, bevor man sich anderen Leuten mitten ins Motiv presse, sich selbst dann aber in exzessiven Foto(Selfie)Orgien zu ergehen.

Blagaj - Im Derwischkloster

Und da kennen viele offenbar keine Geduld und kaum Grenzen mehr. Sie verrücken Möbel, setzen sich auf Sofas, hocken sich an Tische, öffnen Schränke und rupfen Bücher heraus. Fast ist es zum Fremdschämen.

 

Blagaj - Möbel im DerwischklosterBlagaj - Klo im DerwischklosterGerade, dass sich nicht noch wer mit heruntergelassenen Hosen  auf das alte Klo hockt. Gewundert hätte es mich allerdings nicht.
Diese Mischung aus Distanz-, Respekt- und Rücksichtlosigkeit nervt nicht nur, weil sie das entspannte Besichtigen wie auch Fotografieren kaum mehr möglich macht. Es nervt auch, weil es geradezu zwangsläufig dazu führen wird, dass es noch mehr Regeln, noch mehr Abkordelungen, noch mehr Aufsicht und Videoüberwachung geben wird – manche Orte werden Zugangsbeschränkungen haben oder irgendwann gar nicht mehr für die Öffentlichkeit besuchbar sind.
Letzteres wird in Blagaj eher nicht passieren, denn das Derwisch-Kloster ist die einzige Attraktion der Region südlich von Mostar, zu viele Betriebe und zu viele Einnahmen hängen davon ab, als dass es die Pforten schließen wird. Letztlich auch das Kloster selbst.
Aber es ist eben immer noch, auch wenn wohl nicht mehr bewohnt, ein spiritueller, ein sakraler Ort und (nicht nur) als solcher hat er mehr Respekt verdient.

Öfter richtet sich der Blick nach oben, wunderbar verzierte Holzdecken zieren den einen Raum, einen anderen, der wohl einst ein Bad war, ziert ein bunter Sternenhimmel. Licht fällt durch die verglasten kleinen Öffnungen der Decke. Man könnte sich an dieser Stelle auch über Algen und Schimmel an der Decke auslassen, manche tun das auch, man könnte sich aber einfach auch vorstellen, wie schön es gewesen sein muss unter den Sternen ein Bad zu nehmen.

Blagaj - Derwischkloster Sternenhimmel in der Decke

Blagaj - Derwischkloster Schnitzereien

Blagaj - Derwischkloster Buch vor einem FensterHatte ich nicht gerade erst gedacht, ich wolle weniger Fenster fotografieren?
Aber wer kann bei einem solchen Fenster widerstehen?
Ein aufgeschlagenes Buch liegt in einem Ständer auf dem Fensterbrett. Was für eine reizvolle Vorstellung, hier Platz zu nehmen, zu lesen, dann über das soeben Gelesene zu grübeln,  dabei aus dem Fenster zu schauen und die Schwalben im Flug an der Felswand zu beobachten oder die Buna, die aus einer Höhle hervortritt.
Dem Fluss nach- und den Gedanken nachzusinnen – was muss das für eine kontemplative Wohltat für Körper und Kopf, Geist und Seele sein. Wohl dem, der hier Derwisch war. Tanzen bis zur Ekstase hin oder her. Ich weiß zwar immer noch nicht so genau, was Derwische nun eigentlich sind, denn an Informationen ist vor Ort kaum zu kommen, also verschiebe ich das in die Nacharbeit, also das Nachlesen im Netz, wenn wir zurück im Hotel sind. Jetzt hier im Gedränge und Geschiebe in Ruhe auf dem Handy einen Lexikonartikel zu lesen, ist nicht machbar, wenn man nur annähernd etwas von dem Gelesenen behalten möchte.

Steil erhebt sich die Felswand hinter dem Kloster, mehrere hundert Meter hoch. Ein Seil ist über den Fluss gespannt, Schlauchbootfahrer ziehen sich und ihr mit Touristen beladenes Boot erst hinein und dann wieder heraus. Die Buna kommt hier aus dem Karst, ein Teil des Flusses umfließt den Berg, ein Teil fließt direkt unten drunter hindurch.

Was ein Ort.

Blagaj - Die Buna

Bleibt nach der Besichtigung, nach einem Tee und einem Wasser auf der Terrasse des Klosters die Frage: Wohin jetzt?

Vom Parkplatz aus haben wir  wir hoch über der Stadt die Ruinen einer mittelalterlichen Festung entdeckt. Wir hatten schon zuvor davon etwas gelesen und entscheiden, dass wir das hinauf steigen wollen. Es ist ja eine tippi-toppi-Idee, in der Mittagshitze mehrere hundert Höhenmeter bergauf zu kraxeln, aber nun gut. Tröstlich ist, dass der kleine Schotterplatz unterhalb der Festung, von dem aus ein gut ausgebauter Weg hinauf führt, schon ein gutes Stück weiter oben liegt.
Wir rechnen nicht damit, dass auch andere auf die Idee kommen könnten. Wie gesagt: Es ist Mittag, Bus- und Massentouristen sitzen in den Restaurants, Familienurlauber tun sich das der Kinder wegen nicht an. Wer bleibt dann noch?
Wir. Und ein „Irrer“, der im Schweinsgalopp den Berg hinunter gerannt kommt: Ein Berg- und Trailläufer, der mit Sicherheit zuvor auch den gleichen schmalen, staubigen und steinigen Pfad hinauf gestratzt ist. Sind diese Sortfreaks vielleicht auch irgendwie Derwische – nur im modernen Gewande?


Oben erwarten uns die Ruinen der Kula hercega Stjepana Vukcica Kosace, einer spätmittelalterlichen Festungsanlage. Ihr Erbauer Stjepan Vukčić Kosača war ein mächtiger Adeliger im frühen 15. Jahrhundert, der im Dauerclinch mit dem bosnischen König lag, sich selbst den Titel Herzog verlieh, womit er sein Territorium zum Herzogtum erklärte, also zur Herzegowina machte. Womit die Bedeutung dieses Wortes nun auch geklärt wäre.

Ganz allein sind wir auf dem Berg, durchstreifen die Gemäuer treppauf und treppab, blicken über die Zinnen weit hinab ins Tal.
Die Aussicht über Südbosnien ist großartig.
Kroatien ist nicht weit, auch nicht die Adria. Vielleicht sind es 50 Kilometer? Wenn überhaupt. Aber mir scheint hier alles viel, viel grüner als drüben in Kroatien. Der karstige Fels ist der Gleiche, die Vegetation auch nicht anders, aber vielleicht trügt der Schein auch nur – oder mich die Erinnerung an die letzten Reisen.

Würde nicht die Flagge Bosniens an einer Stelle gehisst über den Ruinen wehen, sie könnten überall stehen. Und wäre nicht der schmale Wanderweg hinauf der einzige Zugang, würde es vermutlich ganz anders hier zugehen. So aber gibt es keinen Kiosk, kein Eintrittshäuschen, keine Touristen – ganz zu schweigen davon, dass hier wohl auch nicht irgendwann irgendwelche Filmcrews anrücken, ihr Equipment, dazu Cast und Crew auf den Berg karren und irgendeine Fantasy-Serie drehen, in deren Folge erst recht die Massen herbei strömen. Dubrovnik kann ein Lied davon singen.
Das hat Stjepan Vukčić Kosača schon gut und vorausschauend so geplant.
Der einzige Film, der an dieser Location spielt, ist also der in meinem Kopfkino.

Wieder zurück im Tal gehen wir noch einmal hinunter Richtung Kloster. Eine fangfrische Forelle soll es sein, serviert in einem der Restaurants direkt am Wasser.
Es wird aber nicht eine. Es werden zwei. Pro Person. Da kann man dann die Beilagen getrost ignorieren.

Ich schaue dem Wasser der Buna beim Fließen zu, richte die Kamera darauf und fotografiere. Wieder und wieder entstehen Bilder, mit denen ich in der digitalen Bearbeitung ein wenig „rumspielen“ will.

Bevor wir Blagaj verlassen, wechseln wir bei einem kleinen Spaziergang die Seite des Flusses. Dort, wo Menschen in Trauben stehen, Fotos machen und in die Schlauchboote steigen, dort will ich auch ein Bild machen. Oder zwei, drei oder ganz viele.
Eines ganz ohne Menschen im Kloster. Weder auf den Stiegen zum Fluss davor, noch auf dem Balkon. Ich will ein Wunder erzwingen. Auf Teufel komm raus.
Und der Teufel kommt raus. Aber sonst niemand. Menschenleere Fotos – wie liebe ich es.
Vielleicht gibt es ihn also doch.

Fast unwirklich liegt das Kloster im Schatten, alles andere davor ist sonnenbeschienen. Die Licht- und Farbverhältnisse sind so, als hätte da einer die ganz große digitale Filtertrickkiste bemüht. Aber so ist es nicht.
Am Nachmittag geht es zurück nach Mostar, noch eine Nacht in der Altstadt, da, wo das Leben tobt, dann folgt der ganz große Kontrast – die Einsamkeit der Berge im Nationalpark Sutjeska.

 

Tipp/Info für Nachahmer*innen (eigene Erfahrung, Stand 2023):
Socken mit Löchern gehören in den Müll und nicht an die Füße. Das klingt banal, erspart einem aber hochnotpeinliche Momente, wenn man im Pulk die Schuhe ausziehen muss, um eine Moschee oder ein muslimisches Kloster zu besichtigen.

Alle Teile:
Ankündigung
01: Banja Luka
02: Kozara Nationalpark
03: Der Familienfriedhof im Wald
04: Jajce
05: Die Mlinčići am Pliva See / Zenica
06: Sarajevo, eine erste Annäherung
07: Sarajevo, Baščaršija
08: Sarajevo, auf dem Trebević
09: Sarajevo, zwei Moscheen
11: Sarajevo, die einst belagerte Stadt
12: Auf dem Weg in die Herzegowina
13: Mostar, die alte Brücke
14: Mostar, Stadtrundgänge I
15: Mostar, Stadtrundgänge II
16: Blagaj
17: Weiter gen Osten
18: Sutjeska Nationalpark
19: Tjentište, der Außenpool
20: Tjentište, das Theater am Ende der Welt
20: Tjentište, das Theater am Ende der Welt
21: Trebinje
22: Die Bogomilen Nekropole Radimlja
23: Počitelj
24: Studenci, die Kravica Wasserfälle
25: Nordwestwärts
26: Una Nationalpark
Epilog: Nur ein Stuhl?


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