Bosnien – Eine Reise (22): Die Bogomilen Nekropole Radimlja

Ein wenig schmunzeln muss ich schon, als ich in Juli Zehs Buch Die Stille ist ein Geräusch die Frage lese, wer oder was eigentlich Bogomilen sind. Ich habe es nach dem Urlaub noch einmal zur Hand genommen, lese es ein zweites Mal, jetzt mit der Kenntnisse vieler Orte, die sie bereist hat, ist es ein völlig neues Leseerlebnis.
Schmunzeln muss ich nicht über die Frage, sondern wegen der Frage, denn ich gebe zu: Ich wusste das auch nicht, zumindest nicht so, dass ich eine qualifizierte und vor allem richtige Antwort darauf geben könnte. Irgendeine Religionsgemeinschaft, irgendeine Sekte. Vielleicht wäre es das gewesen, was ich gesagt hätte.
Ich wusste vor der Reise von Bogomilen-Gräbern und Nekropolen, sie wurden in einer Doku erwähnt, die ich in der arte Mediathek gefunden hatte und in Auszügen noch einmal nach dem Urlaub angeschaut habe; jetzt, mit viel mehr Wissen über Bosnien und Herzegowina. Ich habe sie auf vielen Bildern gesehen, Steinquader und Platten, im Bosnischen stećci genannt, irgendwo in karger Landschaft.


Radimlja, eine der größten Nekropolen der Bogomilen aber liegt westlich der kleinen Stadt Stolac, besuchbar für jeden, einfach zu finden und vor allem frei von irgendwelchen merkwürdigen Veranstaltungen in direkter Nähe. Allerdings liegt dieser Friedhof auch nicht in karger, wildromantischer Gegend, die dem Ganzen etwas Archaisches geben könnte.

Die Straße, die von Stolac nach Westen Richtung Čapljina geht, führt an dieser Nekropole nicht nur vorbei, eigentlich führt sie mitten hindurch. Nun ja: Sie klemmt einen kleineren Teil der Totenstadt vom Rest ab. Die Gewerbegebietskulisse und die schnell vorbei donnernden Fahrzeuge nehmen dem Ort ein wenig von seinem Flair, seiner Magie, seiner Kraft, seiner Spiritualität, was immer Menschen auf alten Friedhöfen empfinden mögen. „Nekropole“ trifft so ganz die Sache nämlich nicht, denn es sind christliche Begräbnisstätten mit quader- und hausförmigen Grabsteinen. Damit haben wir es eher mit klassischen Friedhöfen als mit echten Nekropolen zu tun, denn es ist kein Wohnort, der den Toten errichtet wurde, dass sie dort „weiterleben“ bzw. ihre Seelen dort verweilen könnten. Das deckt sich nicht mit christlichen Jenseitsvorstellungen.

Die Straße durch den Friedhof zeugt davon, dass man sich vor Jahr und Tag einfach gar nicht um das kulturelle Erbe von Radimlja gekümmert hat. Es war schlichtweg egal, dass hier mittelalterliche Grabsteine liegen, die man dann einfach beiseite räumen kann, vollkommen egal auch, dass sich Grabsteine in der Regel auf Gräbern befinden, bzw. Bestatte darunter; also die Straße dann über einen alten Friedhof geht.


Heute ist das anders, das Gelände, das noch vor einigen Jahren frei zugänglich war, ist eingezäunt, sehr gepflegt, es gibt ein kleines Lädchen, ein Infozentrum und gehört zum UNESCO Weltkulturerbe. Wie sollte es anders sein: Es kostet mittlerweile Eintritt.


Wer den bezahlt, darf dann kreuz und quer zwischen über 130 Grabsteinen und -kreuzen und großen mit Reliefs verzierten Quadern herummarschieren. Wie üblich streitet man sich im Netz, wie ich später sehe, ob es den Eintritt denn wert sei, ob der nicht unverhältnismäßig hoch ist und so weiter. Das übliche Lamento der Touri-Nörgler, die gar nicht einsehen, überall etwas zu bezahlen und alles möglichst gratis oder doch zumindest supergünstig haben wollen. Manchmal frage ich mich, warum die nicht einfach irgendwo in ein All Inclusive Resort fahren, da sind die besser aufgehoben.
Denn hier geht es auch um die Rettung kulturellen Erbes, das kostet nun mal Geld. Wenn Eintrittsgelder einen Teil davon gegenfinanzieren und damit auch sichergestellt nicht, dass hier nicht irgendwann eine weitere Halle einer Autowerkstatt entsteht, ist es das allemal gerechtfertigt.


Bevor wir über die raspelkurz gemähte Wiese schlendern, ziehen wir uns in den Schatten zurück und genießen eine eiskalte Cola. Unter einer großen Kiefer steht eine Bank, das ist perfekt. Über uns lärmen die Zikaden, hinter uns braust die Straße vorbei, eine Frau im Rollstuhl fährt zwischen den Steinen umher und fotografiert. Ich beobachte sie voller Respekt bei ihrer Arbeit. Sie macht einen hochprofessionellen Eindruck, die Ausrüstung, die sie dabei hat, sieht richtig teuer aus. Sie ist allein, später sehe ich, wie sie erst den Rollstuhl und dann sich selbst in einen Kombi wuchtet. Ich überlege, wie barrierefrei unsere Reise bisher gewesen wäre, wenn es darauf ankommen würde. Abgesehen von den Wanderungen im Nationalpark fällt mir nur sehr wenig ein, was für einen Rollstuhlfahrer nicht machbar gewesen wäre: Mancher Weg vielleicht, der Museumsturm in Mostar. Die alte Brücke in Mostar zu überqueren, den jüdischen Friedhof in Sarajevo zu erkunden, das wäre für Rollstuhlfahrer ohne Hilfe nicht so einfach gewesen.

Neben den Getränken kaufe ich im Kassenraum des Infozentrums auch ein kleines Souvenir, das ausnahmsweise, ich mache das sehr selten. Eine kleine Nachbildung eines Bogomilengrabs ist es, neben einem tönernen Golem aus Prag das einzige Stehrümchen, das jetzt als Mitbringsel aus dem Urlaub daheim vor den Büchern im Regal steht. Manchmal muss das eben sein.


Und dann geht es ans Fotografieren. Hier, da dort, hier noch, so noch und so noch. Wir sind allein, stören niemanden, niemand stört nicht. Niemand schwänzelt wie in Sarajevo  hinter mir her, um genau das gleiche Foto zu machen. Wie angenehm das ist. Vermutlich fragt sich meine Frau irgendwann, wieso das so lange dauert. Ich weiß es nicht. Es gibt nicht nur viele Motive und Perspektiven, ich mache viele Bilder doppelt und dreifach. Misstraue ich der Kamera?

Manches, was scharf aussieht, ist es am Ende doch nicht. Das stimmt schon. Aber der wahre Grund ist ein anderer. Ich möchte einfach sicher sein, all das zu fotografieren, was ich als Bild haben will, unterschwellig weiß ich, dass ich mit hoher Wahrscheinlichkeit hier nie wieder hinkommen werde und damit keine Gelegenheit habe, etwas eventuell Versäumtes noch einmal nachzuholen. Deshalb möchte ich auf der sicheren Seite sein.
Es ist ein merkwürdiges, fast wehmütiges Gefühl, eine Ahnung davon zu haben, einen interessanten Ort nicht noch einmal besuchen zu können. Wenn ich jetzt ins Auto steige, werde ich nicht umkehren für weitere Bilder.


Und noch einmal herkommen?
Nicht, dass es die Nekropole bald nicht mehr geben wird, nicht, dass ich damit rechne, eine solche Reise nicht noch einmal machen zu können. Aber ich weiß, dass wir noch viele andere Länder besuchen wollen, sicher und sehr gerne auch noch mal Bosnien und Herzegowina. Aber obwohl das Land nicht besonders groß ist, gibt es doch noch so viel, dass eine zweite Reise uns an andere Orte führen würde. So aufregend ist Stolac nicht, auch die Nekropole nicht, dass wir beides gezielt erneut anfahren würden, und eine Rundtour würde uns vermutlich nicht wieder hier vorbeiführen.


Nie soll man nie sagen.
Trotzdem: Ich empfinde hier die Einmaligkeit des Besuchs besonders deutlich. Das müsste ich an anderen Orten auch so empfinden. Eigentlich sogar fast immer, denn wir bereisen sehr selten eine Region öfter, kehren dahin zurück, wo wir schon mal waren. Aber irgendwie ist es bei den meisten Orten nicht so spürbar. Vielleicht braucht es aber auch eine Nekropole, um sich der eigenen Endlichkeit bewusst zu sein, zu wissen, dass mit einem „vielleicht komm ich irgendwann ja mal wieder“ keine unendlich verfügbare Zeitspanne gemeint sein kann.

Bleibt die unbeantwortete Frage: Wer waren denn nun die Bogomilen, die nicht nur Gräber errichteten sondern darauf in Steinquadern regelrechte „Städte“, kunstvoll mit Reliefs verziert? Soll ich Wikipedia nacherzählen? Nö. Das kann, wer das wissen will, jeder hier mit einem Klick hier herausfinden. Richtig aber ist dass es sich um eine christliche Religionsgemeinschaft handelt, eine Sekte? Nach katholischer Auffassung ganz sicher, in der byzantinischen orthodoxen Kirche verlor sich der Bogomilismus von ganz allein.

Als wir Čapljina erreichen und damit unser Hotel ganz am Ortsrand im Gewerbegebiet, gibt es für mich plötzlich nur noch ein Ziel, ein ganz und gar profanes: Den Pool auf dem Dach. Dabei ist es mit vollkommen egal, ob ich hier jemals wieder herkomme oder nicht. Was zählt ist allein, dass ich jetzt da bin und jetzt da hinein will. Und so geschieht es.

 

Alle Teile:
Ankündigung
01: Banja Luka
02: Kozara Nationalpark
03: Der Familienfriedhof im Wald
04: Jajce
05: Die Mlinčići am Pliva See / Zenica
06: Sarajevo, eine erste Annäherung
07: Sarajevo, Baščaršija
08: Sarajevo, auf dem Trebević
09: Sarajevo, zwei Moscheen
11: Sarajevo, die einst belagerte Stadt
12: Auf dem Weg in die Herzegowina
13: Mostar, die alte Brücke
14: Mostar, Stadtrundgänge I
15: Mostar, Stadtrundgänge II
16: Blagaj
17: Weiter gen Osten
18: Sutjeska Nationalpark
19: Tjentište, der Außenpool
20: Tjentište, das Theater am Ende der Welt
21: Trebinje
22: Die Bogomilen Nekropole Radimlja
23: Počitelj
24: Studenci, die Kravica Wasserfälle
25: Nordwestwärts
26: Una Nationalpark
Epilog: Nur ein Stuhl?


Vielen Dank fürs Lesen.
Wenn Ihnen dieser Artikel gefallen hat, dann freue ich mich, wenn Sie ihn Ihren Freunden weiterempfehlen – z.B. über Facebook, Twitter, in Internetforen, Facebookgruppen o.ä.
Haben Sie Fragen oder Anmerkungen zu diesem Beitrag? Dann nutzen Sie bitte das Kommentarfeld.
Gern dürfen Sie meine Artikel auch verlinken.

Wenn Sie mir spontan einen Kaffee spendieren wollen, weil Ihnen dieser Beitrag gut gefallen hat, dann klicken Sie bitte auf den Kaffeebecher. Mehr dazu hier.

Wenn Sie mehr Bilder von mir sehen wollen, dann empfehle ich das Fotobuch Im Süden – Bilder eines guten Jahres, das Sie in meinem Web-Shop aber auch in jeder stationären Buchhandlung bestellen können. Ebenfalls dort erhältlich sind die grantigen Geschichten Renate und das Dienstagsarschloch und das Buch von meinen Schwimmerlebnissen in Frei- und Hallenbädern, in Seen, Weihern, Flüssen und im Meer Bahn frei – Runter vom Sofa, rein ins Wasser , Alle Bücher sind auch über die ISBN in der stationären Buchhandlung

Diesen Beitrag weiterempfehlen:

Entdecke mehr von Mal Zwetschgenmann - Mal Wassermann

Jetzt abonnieren, um weiterzulesen und auf das gesamte Archiv zuzugreifen.

Weiterlesen