Zypern im November (#03): Ein Lost Place der Lost Souls
Es ist ein eigenartiger Ort, ein Lost Place der Lost Souls. Bisher wusste ich nicht, dass auch Friedhöfe sterben können, wieder etwas dazu gelernt.
Während unseres Zypern-Urlaubs im November 2022 scanne ich an einem Abend Google-Maps und schaue mir an, welche Sehenswürdigkeiten und Foto Hot Spots es in erreichbarer Nähe unseres Hotels so gibt. Nicht, dass ich nicht auch den Reiseführer studiert hätte, nicht, dass ich auch nur irgendetwas auf die Bewertungen solcher Hot Spots bei Google Maps geben würde. Dazu steht einfach viel zu viel unreflektierter Unfug in den Bewertungen, so zum Beispiel die fortwährenden Beschwerden von Urlaubern, denen man ich Shorts und Trägerhemdchen den Zutritt zu Kirchen, Moscheen und Synagogen verwehrt. So, als könne man dies vorher nicht wissen, so als reiche ein Tüchlein um die Hüften geschwungen, dass man die Gotteshäuser doch betreten kann, so als solle man sich mal nicht so haben.
Aber manchmal fährt man eben doch unwissend ganz nah an dem einen oder anderen Ort vorbei, von dem man nicht wusste, dass es dort etwas zu entdecken gibt. Hätte man es nur vorher gewusst und gehalten. Da ist Google Maps dann ganz hilfreich: Ein wunderbarer Baum, ein verwunschenes Stückchen Wald, eine grandiose Aussicht oder eben ein alter Friedhof.
Der Eintrag „Old Cemetary“ zwischen Kato Arodes und Pano Arodes macht mich neugierig, ein paar Bilder sind auch zu sehen, so dass ich ahne, was mich erwartet, einplanen kann, dort ein paar Minuten zu halten und den Friedhof in Augenschein zu nehmen. Auch dort zu fotografieren, einen Blogbeitrag vorzubereiten (diesen hier) und vor allem: Den Ort auf mich wirken zu lassen.
Eine sehr neue Mauer mit einem alten rostigen Tor umschließt das Gelände, das überwiegend licht von hohen Kiefern bewachsen ist, dazwischen ein paar Sträucher. Während es zur Straße hin noch neu auszieht, wird zur Seite und nach hinten das etwa 1.500 qm große Gelände nur durch einen alten rostigen Zaun begrenzt.
Einiges an Müll wie Dosen und Flaschen, dazu ein paar Patronenhülsen von Jagdgewehren liegt auf dem Boden. Dieser Ort ist alles andere als gepflegt. Ein Lost Place, das erste Mal, dass ich auch einen Friedhof als solchen kennenlerne. Bisher kannte ich nur Friedhöfe, die noch in Benutzung sind oder wenn dort nicht mehr bestattet wird, als solche erhalten werden. Mit mal mehr, mal weniger Pflege. Aber das hier ist mir neu. Überall liegen umgefallen oder umgestoßen Grabsteine.
Der Grund, was hier einst passierte lässt sich schnell zusammenreimen, denn es sind einige Grabsteine der dort Bestatteten gut lesbar. Die Namen sind allesamt türkisch, zumindest muslimische Vornamen. Auch die Aufschrift Ruhuna Fatiha, die erste Sure des Korans, die Bitte, für den Verstorbenen zu beten, macht deutlich, um was es hier einst ging:
Das lässt darauf schließen, dass hier ein muslimischer Friedhof gewesen ist, der, als die Türkei Nordzypern annektiert hat, aufgegeben wurde. Denn der Friedhof liegt im einstigen griechischen Teil der jetzt eigenständigen Republik Zypern.
Damals kam es zu massiven Umsiedlungen der Bevölkerungsgruppen: Türken zogen in den Norden, Griechen wurden in den Süden vertrieben. Das ist 50 Jahre her, noch immer zieht sich eine Grenze durch die Insel, die zwar durchlässig geworden ist, Erdogans Säbelrasseln in Ankara aber lässt die Inselbewohner aber immer wieder aufhorchen. Die Situation ist diplomatisch mehr als verfahren und eine wirkliche Lösung neben der ganz pragmatischen vor Ort, das Ganze möglichst zu ignorieren, ist nicht in Sicht.
Ort und Friedhof sind zu klein und unbedeutend, dass es irgendwelche weiterführenden Informationen dazu im Netz gibt. Man müsste, wollte man tiefer in diese Geschichte einsteigen, alte Einwohner nach ihren Erinnerungen befragen. Aber wer kann schon wissen, an welche sorgsam verschlossenen Türen der Erinnerungen man da klopft, welche Grasnarbe man wieder aufreißt und ob irgendwer überhaupt darüber würde reden wollen? Das allerdings wäre dann die eine Aufgabe für (Lokal)historiker, aber sicher nicht für uns Touristen auf der Vorbeifahrt.
Ein wenig erinnert mich das an den Besuch des kroatischen Hinterlands nahe der bosnischen Grenze – auch eine Region, in der während des Einfalls Serbiens in das Nachbarlands, plötzlich die serbischen Bevölkerungsteile Kroatiens zu unerwünschten Nachbarn im Dorf wurden und viele ihre Heimat verlassen mussten und nie zurückkehrten.
Zurück zu dem Friedhof: Ein ehemaliges, sicherlich sehr viel älteres Gräberfeld ist noch an den Resten verwitterter Steine zu erkennen, der Boden ist teilweise wellig, so wie durch eingefallene Gräber verursacht, oder wie Gräber, die wieder geöffnet und nur unzulänglich zugeschüttet wurden. Ein paar große steinerne Sarkophage sind noch zu sehen. Sie alle sind geöffnet. Ich scheue mich einen Moment, hineinzusehen, rational betrachtet ist das natürlich Blödsinn, ich weiß, dass sie bis auf Blätter, Zweige und vielleicht etwas Müll, leer sind.
Alles andere ist ausgeschlossen. Da liegt niemand mehr drin.
Hat man damals die Toten mitgenommen? Umgebettet? Wo sind sie, die lost souls?
Heute kümmert sich niemand mehr um den Friedhof, die sehr neue Mauer mutet eher befremdlich an. Wozu das, wenn ganz offensichtlich niemand mehr darum kümmert, wie es hinter der Mauer ausschaut, niemand mehr da ist, der den Friedhof pflegt, der Toten gedenkt und sie so in Ehren hält?
Oder gibt es da doch noch wen?
Es war, wie geschildert, eine Zufallsentdeckung, eine, die mehr Wahrheit und Realität zeigt als die Hochglanzbilder, die man aus Reiseprospekten und Blogs üblicherweise kennt. Nichts ist hier instagramtauglich, aber dafür ist es umso authentischer.
Obwohl ich fast fürchte, dass auch solche Orte es plötzlich auf dieser Plattform zu einiger Bekanntheit bringen könnten, spätestens, wenn sich eine Influencerin mit großer Followerschaft dekorativ auf einem der Sarkophage drapiert.
Das wäre dann, um das Jugendwort des Jahres 2020 zu gebrauchen, vollkommen lost.
Zypern im November – alle veröffentlichten Teile:
Ankündigung
Teil 01: Im Tal der Zedern
Teil 02: Das Wrack, das Fels, das Meer
Teil 03: Ein Lost Place der lost Souls
Teil 04: Die Drachenhöhle
Teil 05: Die Akavas Schlucht
Teil 06: Von Flamingos, Mohammeds Tante und doofen Leuten
Teil 07: Auf dem Aphrodite Trail
Teil 08: Paphos, die Kulturhauptstadt Europas 2017
Teil 09: Das Kykkos-Kloster
Teil 10: Polis
Und als Special ein Beitrag in einem anderen Blog:
Ein kleiner Friedhof, wie es hunderte gibt… im Totenhemd-Blog
Vielen Dank fürs Lesen.
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