Tage im vernarbten Land – An der Adria 2021/7

Gibt es eine Region, in der es mehr Lost Places zu sehen gibt als in einem vernarbten Gebiet wie Norddalmatien? Ich weiß es nicht. Es bedarf schon dieser speziellen Geschichte, die Norddalmatien, wie so manche andere Regionen auf dem Balkan haben so vernarben lassen.
Verlassene Gebäude, die dem Verfall preisgegeben sind, gibt es in diesem Teil Kroatiens zu Hunderten, darunter so manche Bauruine. Aber in der Regel sind es Gebäude, die tatsächlich mal genutzt wurden. Viele Wohnhäuser, Fabrikgebäude, landwirtschaftliche Nebengebäude wie Schuppen, kleine Werkstätten, Schulen, Kirchen, Bunker…

Spuren in einem vernarbten Land

Der Grund liegt in der Vergangenheit des Landes Kroatien – in den Jahren 1991 bis 1995, dem Kroatienkrieg und den daraus resultierenden Folgen. Das hier aufzurollen, wäre ein zu weites Feld – einen Überblick liefert Wikipedia.
In der Kurzform aber geht es um die Entstehung der Republik Kroatien aus dem zerfallenden Jugoslawien und die kriegerischen Folgen: Den Einfall der Serben im Land, der Gründung des Republik Kraijna, der Vertreibung der Kroaten aus dieser Region, der Rückeroberung durch die kroatische Armee, was nun wiederum die Vertreibung der Serben zu Folge hatte. Schwere und tiefe Risse in der Bevölkerung, die aus mehreren Ethnien und mehreren Religionen bestand und immer noch besteht. Eine Region, in der die einen nicht mehr leben durften oder konnten, die anderen an der Rückkehr in ihre angestammte Heimat gehindert wurden oder nicht mehr zurückkehren wollten. Wenn der Nachbar zum Feind wird, wie will man da leben?
Verwaiste Häuser, deren Eigentumsfrage nicht geklärt ist, aufgegebene Werkstätten und Höfe inmitten des einst umkämpften Gebiets in Dalmatien im Hinterland zwischen Zadar und Šibenik, dort, wo heute, 26 Jahre später die Küsten zu Urlauberparadiesen wurden. Tief ins Landesinnere verirren sich allerdings die wenigsten. Ein paar Impressionen, nur stellvertretend für die immense Fülle ähnlicher Gebäude:

Kovačić

Dort steht ein verlassenes kleines Wasserkraftwerk nördlich von Knin mit ein paar Bassins zur Fischzucht. Nur noch Ruinen.

Spuren in einem vernarbten Land

Spuren in einem vernarbten Land

Spuren in einem vernarbten Land

Das Dinaragebirge ist zum Greifen nah – in der Nähe ist der Slap Krčić Knin, ein Wasserfall an der Krka, der aber im Sommer ausgetrocknet ist. Liebevoll hergerichtet für die Touristen der Weg dorthin. Direkt auf der anderen Seite des Flusses die Ruine. Vielleicht auch nur noch für die Touristen dort? Es ist ja mittlerweile bekannt, wie groß das Interesse an Lost Places mittlerweile ist.
Andererseits: Keine 15 Kilometer entfernt ist die bosnische Grenze. Irgendwo in dieser Gegend ist im Herbst 1991 die Jugoslawische Volksarmee in Kroatien, dass sich im Juni 1991 unabhängig erklärt hatte, einmarschiert.
Heute, 30 Jahre später, stehen von dem Wasserwerk nur noch die Grundmauern. Längst sind die Zwischendecken eingestürzt, sind die Fenster samt Rahmen verschwunden.
Das Innenleben des Gebäudes – bei vielen Lost Places höchst spannend und eine Inspirationsquelle für alle, die solche Gebäude lieben – ist ebenfalls komplett verschwunden.
Pflanzen wachsen mittlerweile dort. Viele nicht erst seit Kurzem: Brombeeren, Efeu, Buschwerk, sogar ein Feigenbaum hat es auf beachtliche Größe gebracht.
Ob das Wasserwerk und das Gebäude im Zuge oder in Folge der Kriegshandlungen aufgegeben wurde, kann ich nicht sagen, aber es ist symptomatisch für die ganze Region.
Leere, verlassene, verwaiste Gebäude gibt es in Hülle und Fülle.

Bei Bribir

(nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen Ort in der Kwarner Bucht).
Die Bundesstraße durchquert einen kleinen Weiler im Nirgendwo, kaum mehr als ein halbes Dutzend Häuser – mitten im damals schwer umkämpften Gebiet der sogenannten Republik Serbische Krajina.
Ein Haus sticht besonders heraus: Das Verlassene. Auch ein Lost Place. Wie das Wasserwerk in Kovačić ist alles bis auf die Grundmauern verschwunden, auch hier hat das Innenleben des Gebäudes längst der Pflanzenwelt weichen müssen.
War es ein Bauernhof? Eine Mühle?
Das Gebäude kann man nicht betreten, ein Zaun verhindert, dass man es umrunden kann – denn das Nachbargebäude ist bewohnt, verständlich, dass die Eigentümer keine Lust haben, dass ihnen unentwegt irgendwer über den Hof stiefelt.

Spuren in einem vernarbten Land

Spuren in einem vernarbten Land

Warum es aufgegeben wurde, lässt sich auch hier nur für Außenstehende spekulieren. Also lasse ich es.
Auffällig sind die vielen Fassadenschäden;  noch immer sind sie an Gebäuden zu sehen. Bei vielen Gebäuden wurden sie einfach zugespachtelt, aber bei verlassenen Häusern macht sich verständlicherweise niemand mehr die Mühe. Das sind eindeutige Spuren von Straßenkampf und Schusswechsel. Einschusslöcher, mal mehr, mal weniger tief. In einem vernarbten Land tragen auch die Gebäude ihre Spuren – und das sind mehr als nur Kratzer, das sind Kriegswunden.

Spuren in einem vernarbten Land

Obrovac wäre noch zu nennen – eine kleine Stadt am Anfang des berühmten Zrmanja Canyons. Heute ist sie Ausgangspunkt für Bootstouren den Fluss hinunter, touristisch aber bleibt sie trotzdem abgehängt, auch wirtschaftlich, als Handelspunkt ist sie nicht gerade von großer Relevanz. Nicht einmal großflächige Landwirtschaft gelingt hier. Der Boden ist zu steinig, die Hänge zu steil. Ein paar Kilometer entfernt stehen mächtige Windräder, auf einem verlassenen Industriegelände, das noch immer von Ruinen umsäumt ist, dehnt sich eine riesige Solarkraft Anlage aus. Ein erster Schritt.
Trotzdem kommt einem der Ort fast vor wie ein Armenhaus in Norddalmatien, er liegt  inmitten des einst umkämpften Gebiets. Der Anteil der serbischen Bevölkerung ist sehr groß – damals vor dem Krieg und heute ist er es wieder.  Das hatte damals Folgen.
Viele Gebäude stehen leer – viele sind seit dem Krieg nicht wieder aufgebaut. Von der Anhöhe der alten Burgruine sieht man von oben in verlassene Häuser ohne Dach.

Spuren in einem vernarbten Land

Spuren in einem vernarbten Land

Der Ort ist beileibe nicht schön, aber die Kriegsspuren aber machen ihn noch trostloser, als er ohnehin schon ist.
Spuren eines Krieges, der vor 30 Jahren begann, vor 26 Jahren endete. Mittlerweile ist Kroatien in der EU, in der Nato, die 35 Kilometer entfernte Küstenregionen sind Touristenmetropolen, Segler-, Schnorchel- und Badeparadiese. Es gibt eine erstaunliche Anzahl wunderschöner Natur- und Nationalparks

Spuren in einem vernarbten Land

und es gibt eben diese vergessenen Winkel. Abgehängte Regionen. Urlauber verlieren sich nicht hierher. Oder nur ganz Wenige.

Spuren in einem vernarbten Land

Spuren in einem vernarbten Land

Raduč, Otok Murter

Auf der der Küste vorgelagerten Insel Murter erhebt sich auf dem höchsten Gipfel der Insel der ehemalige Militärposten Raduč, entstanden in den frühen 30er Jahren des 20. Jahrhunderts. Errichtet wurde er zur Abwehr italienischer Aggressionen und zur Verteidigung des einstigen Königreiches Jugoslawien vor dem Zweiten Weltkrieg. Diese Narben also sind älteren Ursprungs. Sie wurden aber wieder aufgerissen, denn auch im Kroatienkrieg wurde der Posten wieder besetzt, als die jugoslawische Flotte vor der Küste Kroatiens erschien. Diesen Lost Place stelle ich noch einmal ausführlicher vor.

Spuren in einem vernarbten Land

Zadar

Und Zadar?
Zadar ist eine pulsierende Metropole an der Adria, wnderbar restauriert, hier tobt das Leben, hierhin strömen die Touristen, hier liegen die dicken Yachten am Kai, es gibt in der Altstadt viel zu sehen aus römischer  und venzianischer Zeit, die Neustadt ist geprägt von Wohnsilos und Gewerbegebieten wie überall in Europa.
Hierher kommen die jungen Party People, um die fast sprichwörtliche Leichtigkeit des Seins zu erleben. Das ist ihr gutes Recht.

Aber wer genau hinschaut entdeckt auch in Zadar noch nach knapp 30 Jahren die Spuren des einstigen Krieges in einem vernarbten Land.

Spuren in einem vernarbten Land

 

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1 Antwort

  1. manni sagt:

    sehr sehr interessanter Beitrag ! Hier könnte ich auch stundenlang auf Suche gehen !

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