Der erste Schnee im Dorf

Es ist doch jedes Jahr das Gleiche. Der erste Schnee fällt und alle drehen am Rad. Die einen mehr, die anderen weniger. Autofahrer zum Beispiel drehen ihre Räder weniger. Die sehen mit großem Zorn in kilometerlangen Staus, an dem alle anderen Schuld sind, nur sie selber nicht – obwohl sie mitten drin stehen.
Auch der Münchner Merkur dreht am Rad, eskaliert weiter in Richtung billigster, effekthascherischer, klickbaiting Schreiberei. Mehr und mehr zeichnet sich die Onlineausgabe durch zunehmend dämlichere und erbärmlichere Schlagzeilen aus. Sie titeln was von Kältepeitsche und Eisfront.
Die Kinder freuen sich. Mit knapp 50 cm Neuschnee, der schwer und pappig ist, ist Gut Schneemannbauen, gut Schneeballwerfen und mit ein wenig Glück am Montag unterrichtsfrei. Stehen doch die Räder von Bussen, S- und Straßenbahnen auch still. Die Bundesbahn zieht gleich. Alle reden vom Wetter. Die nicht. Die reden nicht, die fahren aber auch gar nicht erst.
Nichts geht mehr, nichts dreht (sich) mehr. Nicht die Karussells diverser Weihnachtsmärkte, nicht der Ball in der Münchner Gummibootarena, nicht die Einlassdrehkreuze der Messe Heim und Handwerk, nicht die Turbinen am Münchner Flughafen.
Das ist dann die Zeit, da packe ich mich selbst in Skiklamotten samt Schal, Handschuhe und Mütze, schnappe mir die Kamera und stapfe hinaus in den Wald.
Es gilt, eine unglaubliche Ruhe zu genießen. Und es gibt immer etwas zu sehen, öfters auch etwas zu fotografieren. Es ist milchig trübe draußen, denn es schneit ohne Unterlass. Das ist sicher nicht das optimale Wetter für einen Spaziergang, aber noch weniger geeignet für den Schwimmbadbesuch, denn mutmaßlich kommen viele auf die Idee, ebenso mutmaßlich werden die Parkplätze am Bad noch nicht geräumt sein. Es gibt wichtigeres, was Vorrang hat. Die Straßen nämlich.
Seit Stunden sind die Winterdienste im Einsatz, unterstützt von vielen Bauern, Kieswerkbesitzern, Bauunternehmern. Alles, was einen Traktor mit Schaufel hat, ist unterwegs.

Es ist nicht die beste aller Ideen, jetzt über die Felder in den Wald zu stapfen, zum einen liegt der Schnee teilweise einen halben Meter hoch. Das macht das Fortkommen mühsam. Aber irgendwie ist es auch arschbombig – also ein ähnliches Gefühl, wie mit Anlauf in einen spiegelglatten, weil menschenleeren Pool zu springen, der unbändige Wunsch, etwas in Unordnung zu bringen, die Perfektheit der Schneeflächen zu durchlaufen, Spuren zu lassen dort, wo in den vergangenen Stunden einfach noch niemand war…

sich umzudrehen und stolz auf die eigenen Fußabdrücke zu sein. Ich war der erste. Zumindest heute.
Zum anderen ist die Straße zum Nachbardorf, die durch den gleichen Wald führt, hochoffiziell gesperrt. Und das nicht ohne Grund. Die Schneelast und ein stetiger, wenn auch nicht allzu heftiger Wind haben manche Bäume umknicken lassen.

Überall im Wald liegen solche umgestürzte Bäume quer über den Weg, der als solcher kaum erkennbar ist. Aber ich bin da daheim, ich kenne mich aus, ich weiß, wo normalerweise die Wege entlang führen.
Die Gefahr von Schneebruch ist nicht zu unterschätzen. Es knarzt und ächzt im Gehölz. Mehr als einmal höre ich es krachen, wenn Äste in den Baumkronen abbrechen und herabstürzen. Mit geht durch den Kopf, dass bei der Höhe des Schnees und der Mühsal, voranzukommen, es vermutlich im Falle eines Falles auch unmöglich ist, sich mit ein paar schnellen Schritten aus der Gefahrenzone zu bringen.
Wie dumm muss man sein, jetzt durch den Wald zu laufen?
So dumm wie ich.
Oder zumindest so unbesonnen.
Stürzt der Ast herab oder der Baum um, liege ich erschlagen irgendwo im Wald, und wenn nicht erschlagen so doch nach geraumer Zeit erfroren zwischen den Fichten und Birken oder zu Füßen der mächtigen Eichen. Ich sehe mich schon wie weiland in der Schlusszene von Shining wie Jack Nicholson erfroren mit einem irren Grinsen im Schnee sitzen, und dann vielleicht willkommenes Lebendfutter für eine vorbeikommende Rotte Wildschweine auf ihrer Suche nach einem kargen Mahl im Winter.
Bevor meine Phantasie endgültig mit mir durchgeht, bin ich an einem der Hauptwege angekommen.
Yellow Snow am Pfosten eines Brückengeländers kündet an, dass ich zumindest hier nicht der erste im Winterwald bin, ein Hundeführer war auch schon da.
Hier schwenke ich ab Richtung Straße, die werde ich ein Stück zurücklaufen, ich bin des Stapfens müde. Einen Gehweg gibt es nicht, aber der wäre vermutlich ohnehin noch nicht geräumt. Da aber die Straße hochoffiziell gesperrt ist, wird sich der Verkehrsaufkommen in Grenzen halten.

Und so ist es dann auch. Ich komme an einem verlassenen und halb verfallenem alten Bauernhof vorbei, den ich trotz Verbotsschildern mir gern mal anschauen würde, ganz sicher aber nicht jetzt. Da ist kein Hinkommen und das mittlerweile zum Teil eingestürzte Scheunendach sieht so aus, als könne der halbe Meter Schnee auf dem Rest auch diesen den Garaus machen.

Unvermindert schneit es weiter und weiter. Es ist ein stetiges Rein und Raus der Kamera, die trotzdem mittlerweile ganz schön nass ist. Aber das muss sie ab können. Ich habe sie nicht zuletzt wegen ihrer Robustheit gekauft, damit ich auch bei solchem Wetter Bilder machen kann.


Am Waldrand liegt ein kleiner Weiher, ein Frosch- und Krötenteich. Um dahin zu gelangen, muss ich eine Wiese queren, ich sinke bei jedem Schritt bis übers Knie in den Schnee ein. Das hindert mich keineswegs am Weitergehen: Jack Torrance, Du Irrer da oben in Colorado in dem Overlook Hotel – Du bist so ein Looser!

Der Rückweg führt mich durch die Felder und Streuobstwiesen und dann wieder in den Wald. Zeit wird’s für einen heißen Nachmittagskaffee.

…und eine weitere Runde Schneeschaufeln vor der Haustür.

Aber es hat sich gelohnt, in den Wald zu gehen. Aber das tut es eigentlich immer.

 

 


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2 Antworten

  1. Wunderschöne Fotos, obwohl ich kein Schnee-Fan bin. – Du hättest zumindest den Vorteil, wenn du dort im Schnee liegen bleibst, dass du gut gekühlt und noch besser erhalten wirst.
    Alle Welt redet von der Erwärmung um 3° – wer soll denn da noch wirklich an solche „Kältepeitschen und Eisfronten“ glauben (Ironiemodus wieder aus)
    Berlin hat sich sehr zurück gehalten mit Schnee.

  2. Mitzi sagt:

    Herrliche Fotos. Ich bin auch durch den Schnee gestapft und habe ihn sehr genossen.
    Gut, dass du wohlbehalten aus dem Wald zurück gekommen bist. Bei dem schweren Schnee.

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