In der Mühldorfer Hart (Teil 2): Am Lager

Es gilt nun im zweiten, dritten und vierten Teil vom Grauen in der Mühldorfer Hart zu sprechen.

Doch wo anfangen?
Es angesichts des Unbegreifbaren, der Fassungslosigkeit, der Scham schwer. Denn es reiht sich Sprachlosigkeit dazu. Und Wut.
Vielleicht ist Wut ein guter Einstieg. Vielleicht besser: Heiliger Zorn.

Denn dieser überkommt mich, als ich die Kommentare bei Facebook unter der Ankündigung des Geschichtszentrums und Museums Mühldorf a. Inn lese, dass es wieder kostenlose Führungen durch die Dauerausstellung „Alltag, Rüstung, Vernichtung – Der Landkreis Mühldorf im Nationalsozialismus“ lese.
Da nämlich meint einer, kommentieren zu müssen, es müsse mal langsam eine Ende haben, ein anderer fordert den Schlussstrich zu ziehen, ein Dritter fühlt sich genötigt, die Gruppe regionaler Historiker und Historikerinnen aufzufordern, sich doch auch mal mit den Verbrechen der Roten Armee gegenüber den Deutschen während Flucht und Vertreibung zu beschäftigen, was einen Vierten sofort auf den Feuersturm von Dresden bringt. Und dann erst geht es richtig los mit justiziablen Äußerungen der übelsten Art.
Das weckt in mir nicht nur einen heiligen Zorn sondern das inbrünstige Verlangen, sofort nach Mühldorf zu fahren und an einer solchen Führung teilzunehmen. Jetzt erst Recht!
Auch als Zeichen der Veranstalter, dass es nämlich Menschen gibt, die das Thema und ihre Arbeit enorm wichtig finden. Nach wie vor. Vorher aber möchte ich mir am Ort des einzigen Geschehens einen Eindruck verschaffen. An den beiden Gedenkorten, nämlich der Außenstelle des KZs Dachau, dem Außenlager im Mühldorfer Hart, dem Massengrab (s. Teil 4) und den Resten des einstigen Rüstungsbunkers (s. Teil 3).

An einem kühlen, sonnigen Tag Anfang März 2023 stehe ich also auf dem Gelände des ehemaligen Waldlagers bei Mettenheim, schaue mich um und könnte, wüsste ich es nicht besser, fast gar nichts erkennen von dem Grauen, das einst hier geschehen ist: Hier standen die Waldlager IV und V. Sie waren, wie die drei anderen am südlichen Rand der Hart gelegenen, Außenstellen des KZ Dachau. Errichtet wurden die Außenlager im Sommer 1944, befreit wurde es Anfang Mai 1945.

In diesen neun Monaten, so die nüchternen Zahlen, waren etwa 8.300 Menschen hier gefangen. Sie wurden gequält, geschunden, zur Arbeit gezwungen und nicht wenige ermordet. Knapp 4.000 Menschen fanden hier oder auf Transporten aus dem Lager den Tod, sie mussten buchstäblich bis zum Umfallen schuften, sie starben an Unterernährung, mangelnder Hygiene, fehlender medizinischen Versorgung oder wurden von der Krankenbaracke per Zug dahin zurück verfrachtet, woher viele von ihnen zuvor gekommen waren: Zurück nach Auschwitz.
Denn von dort wurden die, die noch arbeiten konnten und bei der Selektion für nützlich befunden wurden, per Zug unter anderem in den Hart gebracht. Hier sollte, wovon noch zu erzählen sein wird, ein gigantischer Rüstungsbunker entstehen und die Häftlinge sich buchstäblich zu Tode schuften.
Wer denkt, dass das an menschenverachtender Perfidie nicht zu überbieten ist, sieht sich angesichts der Informationstafeln und der Ausstellung im Mühldorfer Haberkasten, aber auch der begleitenden Webseite des Vereins „Für das Erinnern – KZ-Gedenkstätte im Mühldorfer Hart e. V.“ schnell eines Besseren belehrt.

Und doch fällt es enorm schwer, angesichts der Idylle in Grünen das in Übereinklang mit dem zu bringen, was man an Bildern von den KZs wie Dachau oder Buchenwald gesehen hat – von den Vernichtungslagern wie Auschwitz gar nicht zu reden.
Ein Weg aus Betonplatten führt in den friedlichen Frühlingswald, eine Gedenkstätte mit Texttafeln informiert die Besucherinnen und Besucher – aber das Grauen konkretisiert sich mir zunächst nicht ganz allein nur durch den Besuch des Ortes. Erst mit der Beschäftigung dessen, was hier geschehen ist und den wenigen noch sichtbaren Spuren kommt eine leise Ahnung: Was zum Beispiel heute wie eine „Verwerfung“ des Waldbodens aussieht, war einst Unterkunft des Winterlagers:

Ein Loch in der Erde, ein Dach darüber, keine Möbel, nur etwas Stroh – Raum für rund 30 Häftlinge. Einen Ofen gab es, Heizmaterial aber nicht und Häftlinge, die im Wald Holz sammelten wurden sofort wegen Sabotage bestraft, viele mit dem Tod.
So standen in dem Bereich einst viele dieser Hütten, im Waldlager waren bis zu 2.200 Menschen untergebracht: Die durchschnittliche Zeit, die sie dort waren, so erzählt es später die Historikerin im Museum, betrug 80 Tage. Danach waren sie tot oder auf dem Weg in die Gaskammern. Die betreuende Ärztin Erika Flocken, so erfahre ich, hat willfährig Gefangenenlisten ge- und unterschrieben von Menschen, die ihrer Meinung nach ins Gas geschickt werden müssten, was dann auch passierte., drunter auch schwangere Frauen. Überhaupt gefiel sie sich in der Rolle, das Sterben im Lager zu beschleunigen, in dem sie medizinische Hilfe, Medikamente oder Verbandsmaterial verweigerte.
Flocken wurde 1947 vor ein Militärgericht gestellt, zum Tode verurteilt, allerdings begnadigt zu langer Haft. Aus dieser wurde sie bereits in 1957 vorzeitig entlassen. Sie kehrte nach Mühldorf zurück und betrieb, als sei nie etwas gewesen, eine Arztpraxis.

Ein weiteres Beispiel, und damit soll es genug sein, veranschaulicht, was den Menschen angetan wurde:

Was heute nur noch an ein paar Betonresten im Boden auszumachen ist, waren einst die Latrinen des Lagers. Ein Loch in der Erde. Mehr nicht. Und die mussten regelmäßig von den Häftlingen ausgeschaufelt werden.

Über dem Loch ein Dach – das war’s. Wen wundert’s, wenn sich hier Krankheiten in rasender Geschwindigkeit ausbreiteten?
Und dass die Latrine nicht sichtgeschützt war, nahm den Menschen den letzten minimalen Bereich einer Privatheit, eine weitere Demütigung, Entwürdigung, Entmenschlichung.

Etwas abseits liegt der große Appellplatz, heute von Bäumen bewachsen. Ihre Stämme im unteren Bereich weiß anzustreichen, macht nicht nur die Dimension des Platzes deutlich sondern hilft auch bei der Vorstellung, dass hier einst Menschen standen und oft stundenlang und gequält wurden.

Und noch etwas erinnert beim genauen Hinsehen an das ehemalige KZ: Die Löcher in der Erde, im regelmäßigen Abstand und in gerader Linie. Hier standen einst die Betonpfähle des Stacheldrahtzauns.

Nachtrag:
Im April 1945 wurde das Lager „evakuiert“ – zurück blieben nur rund 100 Häftlinge, die Anfang Mai 1945 von den Amerikanern befreit wurden.
Der Großteil der noch lebenden Häftlinge aber wurde am 25. April in den heute als Mühldorfer Todeszug bekannten Zug Richtung München gebracht. Die wenigen Gefangenen, die diese Fahrt überlebten, wurden Anfang Mai am Starnberger See befreit – unter ihnen Max Mannheimer.
Beim Zusammenstellen dieser kleinen Blogreihe fällt mir auf, dass die Bilder, die ich vor Ort gemacht habe, nicht annähernd die Sprach- und Fassungslosigkeit zum Ausdruck bringen, die einen ergreifen kann, wenn man sich mit der Geschichte des KZ Außenlagers befasst.
Auch die hier geschriebenen Zeilen geben das nicht wieder, vielleicht, weil es einfacher ist, sich hinter Fakten und Informationen zu „verstecken“, nachzuerzählen, was ich vor Ort gelernt und erfahren habe.

Um aber einigermaßen das vor Ort Empfundene einzufangen, habe ich auch ein paar historische Bilder von den Informationstafeln abfotografiert, von denen ich einige wenige hier zeigen möchte. Ich denke, das ist an dieser Stelle genug, um dem unfassbaren Verbrechen der Nazis ein Bild zu geben.
Ein Verbrechen, ein Morden direkt vor den Augen der eigenen Bevölkerung – und es lässt mich nach wie vor nicht glauben, was nach der Naziherrschaft überall zu hören war: Man habe von all dem nichts gewusst. Niemand.

Das Bild hier zeigt den 23-jährigen, ungarischen Überlebenden Lajos Kormos mit einem US-Soldaten, aufgenommen wurde es in Mühldorf im Juli 1945, also etwa 8 Wochen nach der Befreiung des Lagers.
Die Menschen der Region wussten von den Lagern, von den gigantischen Bauarbeiten im Wald, von den Zwangsarbeitern, den Zügen von und nach Auschwitz. Dazu gibt es genug Aussagen. Und die einen haben geflohene Häftlinge versteckt, so in Mittergars. Die anderen haben 1952 den überzeugten Nationalsozialisten Hans Gollwitzer wieder zum Bürgermeister gewählt, den strammen Faschisten, der von 1937 bis 1945 bereits Bürgermeister der Gemeinde war. Sie haben ihn zum Ehrenbürger ernannt und eine Straße nach ihm benannt.
Und so heißt sie heute noch. Das verstehe, wer will.

In der Mühldorfer Hart (Teil 1): Im Wald
In der Mühldorfer Hart (Teil 2): Am Lager
In der Mühldorfer Hart (Teil 3): Am Bunker
In der Mühldorfer Hart (Teil 4): Am Grab

Im Mühldorfer Hart – Was nachzutragen wäre


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2 Antworten

  1. Petra sagt:

    Guten Morgen Lutz, ich weine … es ist so schlimm!
    Danke fürs Erinnern. Herzlich. Petra

    • Lutz Prauser sagt:

      Liebe Petra, leider wird es im vierten Teil der Serie noch schlimmer. Und genau darum erinnere ich daran.

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