In der Mühldorfer Hart (Teil 4): Am Grab

Im letzten Teil dieses kleinen Serie möchte ich von dem erzählen, was ich als erstes im Mühldorfer Hart ansteuere. Das ehemalige Grab. Das ist schlicht dem geschuldet, dass es dem Parkplatz, auf dem ich mein Auto lasse, am nächsten liegt. „Dramaturgisch“ aber, wenn man das überhaupt so sagen darf, ist das Massengrab sicher die verstörendste Begegnung mit den Naziverbrechen im Mühldorfer Hart. Das Bitterste also zuallererst.

In den neun Monaten, in denen das Waldlager in Betrieb war, kamen wie bereits geschildert tausende Menschen durch unmenschlich schwere Arbeit, mangelnde Ernährung, Krankheiten ums Leben. Einige starben jedoch auch, weil sie mit einer Schaufel niedergeschlagen oder exekutiert wurden. Die Grausamkeit zu begreifen ist schier unmöglich. Doch damit nicht genug: Wenn die Krankenstation überfüllt war, wurden auch noch lebende Menschen einfach mit in das Massengrab geworfen.
Dieses befand sich etwa einen Kilometer vom Waldlager entfernt am westlichen Rand der Hart.
Zwei mächtige Betonblöcke markieren die Gedenkstätte – ja man kann außen herumgehen, aber eben auch durch sie hindurch und sich anhand der Text- und Bildtafeln informieren, was hier einst geschehen ist, sich dem aussetzen.
Nüchterner Fakt: Über 2.200 Menschen wurden hier innerhalb eines Dreivierteljahres im Wald verscharrt.

Und das trifft es nicht einmal, denn die Gräber, von denen man heute nur noch ein paar Unebenheiten des Bodens sehen kann, wurden gar nicht erst geschlossen. Denn am nächsten Tag mussten die Häftlinge die nächsten Toten heranschleppen und diese auf die bereits in den Löchern liegenden Leichname werfen. Erst wenn die Grube voll war, wurde sie geschlossen und eine neue ausgehoben. Und noch eine. Und noch eine. Und…

Nach der Befreiung des Lagers zeigten die Häftlinge den amerikanischen Soldaten das Massengrab.

Die Amerikaner ließen alle Leichen exhumieren, dazu wurden ehemalige NSDAP-Mitglieder der Region herangezogen. Anschließend wurden die Leichen würdevoll auf umliegenden Friedhöfen bestattet – die Bevölkerung wurde gezwungen, diesen Beerdigungen beizuwohnen.

Einmal mehr erweist sich mir an diesem Tag die Kamera als ein hilfreiches Gerät, einen großen Abstand zu dem Geschehenen zu gewinnen. Es ist ein Verstecken hinter dem Sucher. So ist zudem emotional eine ungemein starke Distanzierung möglich. Mit dem Blick durch das Objektiv verliert ich jede Nähe, es geht ums nüchterne Erfassen, um den Wunsch, etwas in Bildern festzuhalten, etwas auszurücken, was man vielleicht so gar nicht sagen kann.

Diese Distanz macht es mir erträglich, sich mit dem zu beschäftigen, was hier zwischen den Bäumen geschehen ist.
Heute führt ein Weg aus Betonplatten zu dem ehemaligen Massengrab. Mein Verstand weiß, dass es dort neben ein paar Kuhlen in der Erde nichts mehr zu sehen gibt. Das hilft mir in dem Augenblick aber wenig: Ein paar Texttafeln am Weg konfrontieren mich mit dem Grauen. Es gibt kaum ein Entkommen, sich dem zu stellen.

Der Weg endet am Rand der Lichtung. Zahlreiche schräg abgesägte Bäume stehen dort. Es ist ein unglaublich treffendes und starkes Symbol für den tausendfachen Tod in diesem Wald.

Auf vielen Baumstämmen liegen Steine.
Es ist ungemein tröstlich, diese Steine zu sehen. Sie sind Bestandteil uralter jüdischer Tradition. Ihre Wurzel hat der Brauch darin, dass die Toten ursprünglich in der Tat unter Steinen bestattet wurden, damit sie nicht von wilden Tieren gefressen werden. Später dienten sie zur Markierung und Identifizierung der Gräber und eben daraus abgeleitet auch als Zeichen, dass da einer ist, der zum Grab geht, der an die Toten denkt, sich ihrer erinnert, sie ehrt. Denn „das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung“ wie es der Gelehrte Rabbi Israel ben Elieser gesagt haben soll.

Für mich bedeutet das, dass Menschen hierher kommen, sich erinnern und der vielen, vielen ermordeten für sie wildfremden Menschen gedenken. Auch wenn uns mittlerweile fast 80 Jahre von dem Geschehenen trennen. Aber es kann mich nicht versöhnen mit all dem, das ist kein Happy End.

Bevor ich gehe, hebe ich einen Stein vom Boden auf und lege ihn auf einen der Baumstümpfe. Ich suche einen Stumpf aus, auf dem noch kein Stein liegt. Es ist schwierig, die Auflagefläche des Steins ist nicht allzu groß, die Fläche ist abgeschrägt, regennass und glitschig. Der Stein kommt ins Rutschen.
Aber als ich ihn die richtige Position gebracht habe, bleibt er liegen.
Das ist meine Art, an die Toten zu gedenken – an sie, die Opfer dieses mörderischen Regimes.

Und ich werde immer an die Täter denken wie auch an ihre grauenvollen Taten. Nicht schweigen, keinen Schlussstrich ziehen.
Einmal mehr nehme ich mir vor, wieder und wieder davon zu sprechen. Denn das war kein Fliegenschiss der Weltgeschichte. Ganz und gar nicht. Ich möchte den Satz des Shoah-Überlebenden Max Mannheimer aufnehmen, der als arbeitsfähiger Häftling im Januar 1945 im Waldlager der Mühldorfer Hart eintraf, einer der Überlebenden der „Evakuierung“ im Todeszug war und im April 1945 in Tutzing von den Amerikanern befreit wurde:

Nachtrag:
Es kommt nicht oft vor, dass mein Blog so politisch ist – aber es geht eben nicht anders. Und es kommt auch eher selten vor, dass ich mir für einige Beiträge besonders viele Leserinnen und Leser wünsche. Diese kleine Serie aber ist eine davon. Daher lautet meine große Bitte, diesen Beitrag weiter zu verbreiten.
Herzlichen Dank

In der Mühldorfer Hart (Teil 1): Im Wald
In der Mühldorfer Hart (Teil 2): Am Lager
In der Mühldorfer Hart (Teil 3): Am Bunker
In der Mühldorfer Hart (Teil 4): Am Grab

Nachtrag 1: Ein Kommentar
Nachtrag 2: Seine der Hoffnung – Auf dem KZ Friedhof in Burghausen


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6 Antworten

  1. Vieles wiederholt sich. Man braucht nur Richtung Osten schauen.

  2. Kurt Schaller sagt:

    Diese kleine Serie ist schwer zu ertragen. Beim Lesen befällt mich das Grauen ein um das andere Mal, sowie es mich befällt bei den Besuchen anderer Gedankstätten in denen diese Nazibande ihre Greultaten begingen. Besonders befällt einen der „heiligen Zorn“ , wie du es gut beschreibst, wenn man den Links folgt und sieht was diesen Verbrechern an geringen Strafen aufgebrummt wurde, wie schnell sie entlassen wurden und als oft anerkanntes Mitglied der Gesellschaft weiterleben durften. Ich kann immer noch nicht verstehen, wie man mit so einer mörderischen, verbrecherischen Einstellung weiterleben kann und es Menschen gibt, die die Geschichte leugnen. Aber wir sind nicht blind und müssen uns mit aller Macht gegen diese Fliegenschisspolitik stemmen. Nie wieder Nazis, keinen Höcke und keine v.Storch, auch keine Erika Steinbach.

  3. oli sagt:

    Wir waren letztes Jahr auch in Mühldorf.
    Sprachlos. Ist es doch nur ein paar Autominuten von uns entfernt, aber in 20j „München“ haben wir davon vorher nie gehört.
    Allerdings muss ich gestehen, dass ich auch noch nicht in Dachau war.
    Im Hart hatte ich auch meine Kamera dabei, aber keines der Bilder hat es auf meinen Blog geschafft.
    Zu intim ist mir der Ort vorgekommen. Zu betroffen war ich selbst.
    Vielleicht auch ein Grund, warum ich Dachau scheue – nicht weil ich leugne! Ich habe mich gut mit der deutschen Geschichte beschäftigt, bin oft in Berlin – trotzdem beklemmt mich der Ort (und ich bin schon 100derte Mal in Dachau am KZ vorbeigefahren!)
    Auch könnte ich mir nicht vorstellen, durch Dachau mit einer Kamera zu laufen und Bilder zu machen. Zu intim.
    Um so mehr bewundere ich deine Bilder und deine Gedanken. Weil sie genau diese Intimität mit dem Ort sehr gut wiedergeben. Danke.

  4. Mir fällt es enorm schwer irgendetwas dazu zu schreiben. Ein klarer Fall von Sprach- und Fassungslosigkeit.
    Aber Danke sagen, wollte ich dir für diese Serie, für die klaren und sensiblen Worte und für die unglaublich schönen Bilder, die manchmal im Gegensatz zu dem Gesagten und Geschehenen stehen. Vielleicht kann mich das trösten, dass die Schönheit und Erhabenheit der Natur unsere Abscheulichkeiten immer wieder überwuchert? Nein, nicht wirklich … ich weiss es nicht. Danke, Lutz für diesen Einblick!

    • Lutz Prauser sagt:

      Danke Alex. Das Problem der Sprach- und Fassungslosigkeit kenne ich auch, dann verschanze ich mich hinter der Kamera. Und irgendwann kommen doch die Worte, die es meiner Meinung nach zu sagen gilt.
      Hilfreich, wenn man die Gelegenheit hat, im Nachgang zu Mühldorf und einem ersten Dachau Besuch noch einen zweiten dort zu machen zusammen mit Michael Haas. Zwei Stunden Gedankenaustausch, der so wertvoll wie wichtig war.