Im Winter auf dem Waldfriedhof

Grabstein mit dem Namen Eckehardt Belle

Die Älteren unter Ihnen mögen sich vielleicht an David Balfour erinnern, jenen jungen schottischen Abenteurer des ausgehenden 18. Jahrhunderts, der von seinem Onkel ums Erbe betrogen wird, auf ein Schiff verschleppt wird und nach Amerika in die Sklaverei verkauft werden soll. So erzählte es einer der legendären Adventsvierteiler des ZDF, ausgestrahlt 1978, basierend auf einem Roman von Robert Louis Stevenson. Die Hauptrolle spielte der damals 24 jährige Eckehardt Belle. Es hätte der Beginn einer wunderbaren Schauspiel-Karriere werden können, denn nahezu alles, was Belle vorher spielte, war Mumpitz, um nicht zu sagen, dass es viertklassike (Sex-)Filmchen waren; und damit kaum karrieretauglich.
Aber die Karriere nahm nicht Fahrt auf, man sah ihn gelegentlich in Kleinst- und Nebenrollen deutscher Fernsehkrimis. Dafür hörte man umso mehr von Belle, denn er wurde ein viel beschäftigter Synchronsprecher. Er selbst behauptete, über 3.000 Rollen gesprochen zu haben, die deutsche Synchrondatei, die allerdings nicht vollständig ist, benennt knapp die Hälfte.
Belle starb im Januar 2022 und es mutet etwas eigenartig an, als sich sein Grab zufällig auf dem Neuen Teil des Münchner Waldfriedhofs entdecke. Eigentümlich berührend, weil ich Belle ein paar Mal im Wartebereich Münchner Synchronstudios getroffen hatte. Er wartete auf seine Nichte und seinen Neffen, ich auf eine meiner Töchter, die Kinderrollen irgendwelcher Serien deutschte Stimmen verliehen. So ergaben sich auch einige wenige kurze Gespräche.
Der Münchner Waldfriedhof, der größte der bayerischen Landeshauptstadt hat unter den knapp 65.000 Grabstätten auch einige Prominenz. Aber ich bin nicht hergekommen, um diese abzulaufen oder gar zu suchen.
Warum dann? Eigentlich nur zum Stromern, einen Ausflug zu machen, spazieren zu gehen oder neu deutsch: Einen Fotowalk zu unternehmen, denn natürlich habe ich die Kamera dabei, natürlich bin ich „nur“ zum Fotografieren hier. Ich konzentriere mich auf den neuen Teil, der alte soll dann im Frühjahr besucht werden.
Das Auge flitzt unermüdlich hin und her auf der Suche nach Bildmotiven an diesem kalten, klaren Wintertag. Die Nacht zuvor hat es geschneit, vielleicht nicht gut für Bilder von dem Gräberfeld der 3.249 italienischen Kriegstoten, in Bayern Gefallene beider Weltkriege, die hier zusammengelegt wurden, aber für andere Motive ist der Schnee umso besser.
Unheitlich ergibt sich das Bild dieses riesigen Friedhofs, es gibt einen islamischen und einen jüdischen Teil, die bereits erwähnten Kriegsgräber, ein großes Gräberfeld für Kindergräber, aus dem viele Fahnen, Windräder, bunte Figuren herausragen und deren die sie umgebenden Sträucher mit Herzen und Sternen behängt sind. Es gibt in der Mitte einen künstlichen See samt Gänsen und parkartige Landsschaften, ökologische Nischen wie Blühwiesen und Bienenweiden im Sommer.

See mit künstlicher Insel auf dem Waldfriedhof

Und hier und da finden sich Prominentengräber, weit weniger als im alten Tei Gesehen habe ich kaum welche, auch nicht gesucht, weil sie mir nicht wichtig waren; aber vielleicht klappere ich doch noch mal das eine oder andere Grab bei einem weiteren Besuch ab. Ein Stück weiter von Belles letzter Ruhestätte befindet sich das Grab von Leni Riefenstahl, der einstigen gefeiertenRegisseurin im Dritten Reich, die heutzutage wegen ihrer geschmeidigen Anpassung an den Nationalsozialismus und jegliches Fehlen einer späteren Distanzierung geschweige denn Auseinandersetzung mit ihrer Vergangenheit höchst problematisch und umstritten ist.

Grab von Leni Riefenstahl

Auf sie komme ich eine Viertelstunde später unfreiwillig zu sprechen, als mich auf dem italienischen Kriegsgräberfeld eine Frau anspricht und von den herrlichen Fotomotiven schwärmt, die dieser Friedhof ganz offensichtlich zu bieten habe. Denn sie hat mich mit der Kamera in der Hand gesehen. Sie, so erzählt sie auf der Suche nach ein wenig Sozialkontakt, kommt oft zum Spazierengehen her. Höflich bin ich auf ihre Ansprache hin stehen geblieben, habe die Stecker aus den Ohren gezogen und den laufenden Podcast unterbrochen. „Ja, tolle Bildmotive, vor allem bei dem Wetter und dem Licht heute.“
Ob ich am Grab von Fritz Wunderlich gewesen sei? Und schon spult sie ein paar weitere Namen herunter. Artig verneine ich, erwähne aber, dass ich gerade erst das Grab von Leni Riefenstahl gesehen hätte. Name droping ist ja so wichtig. Die Frau zeigt sich erstaunt, sie wüsste ja gar nicht, das die hier auch läge. Über die Riefenstahl habe sie gerade erst einen Film gesehen, ob ich den kennen würde.
„Ja!“ lüge ich sie an, denn ich möchte tunlichst vermeiden, dass sie mir den Inhalt des Films wiedergibt oder das Ganze ausführlichst einordnet. Ich möchte mich eigentlich gar nicht über diese Person unterhalten. Aber sie. Und dann schlägt sie einen steilen Bogen von Leni Riefenstahl zu Anna Netrebko, bei der sei es ja auch so, die würde sich ja auch nicht vom Kriegstreiber Putin distanzieren, so tun, als wisse sie von nichts, als ginge es immer nur um Kunst und weiter politisiert sie über Netrebko, Putin und den Ukraine-Krieg, schimpft auf die Salzburger Festspiele, die sie nun auch nicht mehr besuchen würde, weil die doch den Currentzis geholt hätten, auch so einer, der sich nicht äußere, dabei gäbe es doch genug andere… Auch zur Netrebko würde sie nicht mehr in die Oper gehen, das sei ihre Form von Widerstand.
Das Geplauder wird mir zunehmend unangenehm, ich würge es schließlich mit der Bemerkung ab, ich müsse mal weiter, bevor die Sonne hinter den Bäumen verschwindet. Dazu fasele ich was von Licht und Farben, Schatten und Schnee, von Fotografie und deren Bedürfnissen und trolle mich. Wer weiß, was ich sonst noch so zu hören bekäme?

Iralienische Kriegstote auf dem Waldfriedhof

Dabei ist nicht falsch, was die Frau gesagt hat, aber nicht hier und nicht jetzt will ich das erörtern. Also weitergehen, die Stecker zurück in die Ohren und weiter geht es mit einer podcastlichen Belehrung über den Schlagabtausch von Martin Luther und Thomas Müntzer anlässlich des Bauernkrieges im 16. Jahrhunderts:
Nannte Luther Müntzer „Satan“, „Weltfresser“, „lügenhaften Teufel“, beschimpfte Müntzer Luther als „geistloses, sanftlebendes Fleisch zu Wittenberg“. Danach steht mir gerade mehr der Sinn als nach Netrebko oder Currentzis.

Ehrengrab auf dem Waldfriedhof mit Fanen dekoriert

Und dann gibt es noch etwas höchst Politisches und nicht Unproblematisches auf dem Waldfriedhof: Das Grab von Stepan Andrijovyč Bandera, eines nationalistischen, ukrainischen Politiker und Anführers des Flügels der OUN (Organisation ukrainischer Nationalisten), der OUN-B. Bandera wurde 1959 von KGB Agenten in München ermordet. Immer wieder wird Farbe auf seinen Grabstein geschmiert oder die Grabstätte verwüstet. Das bisher letzte Mal im Mai 2024.
Es ist nicht das einzige ukrainische Grab, es gibt ein Gräberfeld und zudem eine Gedenksäule für die im Zweiten Weltkrieg Gefallenen der Ukraine. München war in der Zeit der Sowjetunion einer Anlaufpunkt und Exilort für Ukrainer, die aus der UdSSR fliehen oder emigrieren konnten. Manche Gräber zieren die Wappen der OUN oder OUN-B, manche sind mit der blau gelben Ukraine-Flagge und der schwarz-roten der OUN geschmückt; so auch das Grab von Jaroslaw Stezko, dem Führer der OUN-B.
Es ist gerade angesichts des Ukraine-Krieges ein komplexes Thema, denn die als Freiheitskämpfer verehrten Ukrainer gehörten einer Organisation an, die während des Zweiten Weltkriegs enge Kontakte zur deutschen Abwehr und SS in den ukrainischen besetzten Teilen der UdSSR unterhielt. Sie kollaborierte nicht nur, sie bildete sogar eine eigene Freiwilligen Division für die SS. Viele Historiker ordnen die OUN als offen rechtsradikal, antisemitisch, rassistisch und faschistisch ein.

Unvermittelt wird ein Friedhofsspaziergang also auch eine Konfrontation mit der Europäischen Geschichte.
Friedhofsspaziergänge sind eben so viel mehr als nur Gräber anschauen.

Hier eine Galerie mit Bildern von meinem ersten Spaziergang auf dem Waldfriedhof. Gesehen habe ich noch längst nicht alles:

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2 Antworten

  1. Sonja sagt:

    Was für ein starker, informativer Blogartikel mit diesen anschaulichen Fotos noch dazu!

    • Lutz Prauser sagt:

      Vielen lieben Dank Sonja, für Dein Feedback. In der Tat ist der Waldfriedhof schon seiner Größe wegen höchst interessant, birgt viele Fotomotive und Begebenheiten, über die sich Bloggen lohnt. Ich werde sicher noch ein paar Mal vorbeischauen und mein Augenmerk auf andere Gräberfelder und Bereiche richten.

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