Steine der Hoffnung
Steine liegen vor mir. Ich lege einen dazu. Für die einen sind diese Steine Zeichen der Erinnerung, für mich bedeuten sie ein wenig mehr. Es sind auch Steine der Hoffnung.
Doch von Anfang an.
In Burghausen zu Füßen des Pulverturms der Burganlage liegt ein kleiner Friedhof. Eigentlich bin ich in die Stadt an der österreichischen Grenze gefahren, um mir im dortigen Haus der Fotografie die Ausstellung Bittersweet des Münchner Fotografen Christopher Thomas anzusehen. Ich erwarte wunderbare Bilder (werde auch nicht enttäuscht) und möchte den kühlen, wolkenverhangen Tag außerdem für die eine oder andere Erkundung der Stadt nutzen.
Auf dem Weg vom Parkplatz zum Pulverturm und weiter zum Wöhrsee passiere ich diesen kleinen Friedhof, der südlich von einer mit Löwenzahn und Hahnenfuß bewachsenen Wiese auf der Ebene über dem Wöhrsee liegt.
Es ist das erste Ziel meines Stadtspaziergangs, der letztlich kürzer ausfällt als geplant, da es ordentlich zu regnen begonnen hat. Aber dem Regen zum Trotz nehme ich mir zumindest für den Friedhof viel Zeit. Vielleicht passt es sogar, dass das Wetter immer unangenehmer wird.
Auf diesem Friedhof liegen 253 Menschen bestattet. Sie alle sind 1944/45 als Häftlinge im Außenlager des KZs Dachau in der Mühldorfer Hart ums Leben gekommen.
Im vergangenen Jahr habe ich im Hart die Gedenkstätten besucht und eine Blogserie darüber geschrieben: Über die kaum mehr erkennbaren Reste des Lagers, in denen die Häftlinge in Erdlöchern lebten, über die Ruinen der Bunkerbauten, die die Häftlinge im Wald errichten mussten. Hier sollte, halb unterirdisch, im Wald versteckt und unter gigantischen Betonbögen geschützt eine Rüstungsfabrik entstehen. Tausende Gefangene sind dabei ums Leben gekommen, ihre Leichen wurden in einem Massengrab im Wald verscharrt. Dieses Grab, der für mich beeindruckendste und schmerzlichste Erinnerungsort im Hart, gibt es nicht mehr.
Nach Kriegsende und nach der Befreiung des Lagers ließen die Amerikaner die Toten exhumieren und auf Friedhöfen der Region bestatten. Als Teil der Re-Education wurde damals die erwachsene deutsche Bevölkerung gezwungen, an diesen Bestattungen teilzunehmen.
So kamen 253 Tote aus dem Hart nach Burghausen und wurden hier bestattet; namenlose Tote, nicht mehr identifizierbar, die meisten Juden, vermutlich aus Polen und Ungarn. Zwar wurden die Namen der Toten notiert, aber in einer Grube voller nackter Leichname lässt sich der Körper nicht mehr dem Namen zuordnen. Auch das steht für die Barbarei des Nationalsozialismus.
23 Gedenksteine sind für die Toten auf dem Gelände des Friedhof aufgestellt worden. Bis auf drei tragen sie keinerlei Inschriften,
…einige aber einen aufgesetzten Stern. Andere Steine sind in Kreuzform. Vielleicht hat man so versucht, der Religion der Toten zu entsprechen, vielleicht zeigt es einen jüdischen und einen christlichen Teil des Friedhofs an.
Drei besondere Steine wurden errichtet, um den Besucher:innen des Friedhofs die besondere Bedeutung des Ortes zu erklären, sie tragen Inschriften, um was es hier geht, in englisch, hebräisch und deutsch. Eine weitere Infotafel am Eingang weist ausführlicher auf die Geschichte und die Bedeutung dieses Friedhofs hin.
Für mich fügt sich der Besuch der Gräber in Bughausen, der eher zufällig erfolgt ist, an den Besuch in der Mühldorfer Hart an. Nach dem aufgelösten Massengrab stehe ich jetzt auf einem der Friedhöfe, auf denen die Toten zu ihrer letzten Ruhe bestattet wurden. Es gibt einige davon in der Region. Es war klug, die Toten des KZ nun auf Gemeindefriedhöfen oder extra geschaffenen würdevoll zu bestattet und das Geschehene direkt vor der Haustür somit im Bewusstsein der Bevölkerung zu halten.
Langsam bewege ich mich zwischen den Gräberreihen. Mein Blick sucht nach Fotomotiven, viel zu sehen gibt es allerdings hier nicht, aber das ist auch nicht die Funktion dieses Ortes. Es ist keine Sehenswürdigkeit, das Gräberfeld soll auf andere Weise zu seinen Besucher:innen sprechen als durch aufwendige Grabsteine, verwunschene Winkel, efeuumrankte oder vermooste Skulpturen.
Auf ausnahmslos allen Grabsteinen liegen Kieselsteine, eben die Steine der Erinnerung an die Toten. Es spielt keine Rolle, ob die Steine in Kreuzform gehauen sind oder nicht, ob sie einen Davidstern tragen oder nicht. Sie alle sind belegt und das ist gut.
Während ich im Regen stehe, sinniere ich über diese Steine an solchen Erimnerungs- und Gedenkorten: Für mich haben sie eine besondere Botschaft, sie geben mir Hoffnung. Das meine ich ganz profan: Denn sie zeigen mir, dass Menschen an diese Gedenkorte kommen; Menschen, denen weder diese Stätten egal sind noch die Erinnerung daran, welch schreckliche Gräueltaten im Dritten Reich geschehen sind, was für ein furchtbares Leid der Nationalsozialismus über die Welt gebracht hat.
Daran zu denken, daran zu erinnern, es nicht dem Vergessen preis zu geben, es nicht zu relativieren, zu bagatellisieren ist der erste Schritt, dem fast zwangsläufig der zweite folgt, sich dafür einzusetzen, dass sich dies nicht wiederholt, die Stimme gegen Faschismus, Rassismus, Antirassismus und Diskriminierungen zu erheben. Und wenn ich in Burghausen an diesem abseits gelegenen Friedhof stehe, spekuliere ich, dass hier überwiegend Bewohner:innen aus der Region Steine ablegen, weniger Reisende. Das lässt mich hoffen. Das gibt mir das Gefühl, dass ich nicht allein bin, dass wir viele sind.
Darum sind diese Steine für mich auch Hoffnungsträger. Denn hinter jedem Stein, der an einem solchen Ort abgelegt wird, steckt eine/r, dem all das eben nicht egal ist, kein Schatten in der Vergangenheit, kein „Fliegenschiss der Geschichte“.
Ich lege einen kleinen weißen Stein zu, den ich zuvor am Wegesrand vor dem Friedhof aufgehoben habe, auf einen der Grabsteine. Im Nu ist er regennass. Möge er mir helfen, mich immer wieder an die Geschichte unseres Landes erinnern und Lehren daraus zu ziehen, möge er anderen zeigen:
Wir sind mehr.
PS:
Für die Veröffentlichung dieses Beitrags wähle ich bewusst den 08. Mai, der direkt in der Woche nach meinem Besuch in Burghausen folgt.
Es ist ein besonderes Datum, denn das ist der Tag der bedingungslosen Kapitulation des Deutschen Reiches, das Ende des NS-Terror-Regimes. Und es ist der Tag der Befreiung , wie es 1984 Bundespräsident Richard von Weizsäcker besser und sinnvoller einordnete.
Aber es ist noch mehr: Es ist der Tag, an dem 1949 der Parlamentarische Rat das Grundgesetz verabschiedete und damit den Grundstein für die Bundesrepublik Deutschland legte. Das historisch so bedeutsames Datum wollte Konrad Adenauer, der Vorsitzende des Rates, nicht verstreichen lassen. Er setzte alle Hebel in Bewegung, dass diese Verabschiedung, nachdem der Rat viel länger getagt hatte als geplant, noch kurz vor Mitternacht erfolgte.
Interessante Randbemerkung dazu: Von den 77 Abgeordneten stimmten seinerzeit 12 dagegen: Die Abgeordneten der Kommunistischen Partei, der Deutschen Partei, des Zentrums und der CSU. Noch eine interessante Randbemerkung: Bayern war dann auch das einzige der 11 Bundesländer, in dessen Länderparlament die Annahme des Grundgesetzes abgelehnt wurde, allerdings einschränkend, man wolle das GG doch annehmen, wenn sich die Mehrheit der anderen Länder sich dafür aussprechen.
Zum Nachlesen hier die Links zur Beitragsreihe:
In der Mühldorfer Hart (Teil 1): Im Wald
In der Mühldorfer Hart (Teil 2): Am Lager
In der Mühldorfer Hart (Teil 3): Am Bunker
In der Mühldorfer Hart (Teil 4): Am Grab
Nachtrag 1: Ein Kommentar
Nachtrag 2: Seine der Hoffnung – Auf dem KZ Friedhof in Burghausen
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Danke für diesen aussagekräftigen Beitrag, Lutz.
Gerade habe ich im Fernsehen noch etwas interessantes zum 08.05. erfahren:
Als Ende des 2. Weltkrieges ist es in vielen Europäischen Staaten ein offizieller Feiertag.
Nur merkwürdigerweise nicht in Deutschland. Das ist im Kontext zu deiner interessanten Info über das Grundgesetz noch eigenartiger.