Herr Kafka und das Kino

„Im Kino gewesen. Geweint!“

notierte einst Franz Kafka lakonisch in sein Tagebuch.

Diese Zeile gehört vermutlich nach dem ersten Satz aus der Verwandlung „Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt“ zu den bekanntesten und häufig zitierten Zeilen Kafkas.
Auch ich zitiere ihn in Teilen regelmäßig, wandle ihn aber immer wieder frei ab. Jedes Mal, wenn wir im Kino waren, schreibe ich in meinen Profilen Facebook, X, Mastodon und BlueSky eine Notiz samt dem entsprechenden Filmplakat. Das „geweint“ lasse ich dabei weg, denn ich weiß schon kaum noch, wann ich das letzte Mal im Kino geweint habe. Habe ich überhaupt?
Statt dessen steht dann dort „gelacht“, „gerührt“, „gestaunt“ oder brandaktuell „Im Kino gewesen. Nicht geweint. Aber Furioses gesehen, vor allem großes Popcornkino.“
Fast nie notiere ich „gelangweilt“, „genervt“ oder „geärgert“. Denn wir wählen sehr bewusst aus, was wir uns im Kino anschauen und das ist eine Menge. Ein tiefer Griff ins cineastische Klo ist höchst selten dabei.

Von diesen Kinobesuchen erzähle ich gerne öffentlich, erhalte Likes und Kommentare und bilde mir ein, hin und wieder jemanden motiviert zu haben, auch ins Kino zu gehen.
Das nennt man dann wohl Mundpropaganda, ein durch und durch unangenehmes Wort, was an seinem Bestandteil „Propaganda“ und dessen Konotation liegt. Propaganda ist Manipulation und Verführung. Wozu auch immer, was dazu führt, dass man in Fachkreisen lieber vom „Word of mouth“ spricht, was weitaus weniger belastet ist und einem leichter über die Lippen kommt.

Vor einigen Wochen traf ich im Kino, um endlich zum Thema zu kommen, auf Franz Kafka. Wir begegneten ihm im Spielfilm Die Herrlichkeit des Lebens, brillant verkörpert vom Schauspieler Sabin Tambrea. Für Kafka-Adepten und -fans mag der Film eine Zumutung sein, denn er basiert auf einem Roman von Michael Kumpfmüller. Der Autor hat sich alle Freiheiten genommen, die Beziehung von Kafka und Dora Diamant als Vorlage für seine eigene Prosa zu verwenden. Das ist legitim, aber eben nicht biographisch, was es allerdings auch nicht sein soll.
Puristen stört so etwas, sie sehen ihre Idole verfälscht, so als gäbe es nur den Hauch einer Chance, in einem Spielfilm eine reale Person so zu zeigen, wie sie wirklich war. Nahezu jeder Dialog in einem Roman oder einer  entspricht schon der Phantasie des Autors oder der Autorin.
Der Film ist rührend, leise, bisweilen fast heiter, voller Liebe, Humor und gar nicht kafkaesk. Und er ist kräftig gefüllt mit jeder Menge Abschiedsschmerz. Denn Kafka wird jung sterben, was hinlänglich bekannt ist, also ist das hier nicht groß spoilert.
Das mag man kitschig finden, muss man aber nicht. Neben der erneuten Erkenntnis, dass das deutsche Kino weit mehr zu bieten hat als Matthias Schweighöfer oder Elyas M’Barek (um nur zwei der omnipräsenten und für mich größten Leinwand-Nervensägen zu nennen) und auch gute Geschichten zu erzähle weiß, macht mich der Film kolossal neugierig auf die historische Dora Diamant, die auf der Leinwand nicht weniger beeindruckend von Henriette Confurius verkörpertt wird. Ich stöbere durchs Netz, finde aber nicht allzu viel, vertage die Suche nach Dora und wende mich höchst real und weitgehend analog Kafka zu.

Denn Die Herrlichkeit des Lebens funkt mir auch das Signal zu, dass ich schon viel zu lange nichts mehr von Franz Kafka gelesen habe, was umgehend geändert gehört: Für mich steht dringend eine Wiederentdeckung an.
So etwas passiert mir öfter: 2020, in der Hochphase der Corona-Pandemie trieb mich das damals aktuelle Geschehen tief hinein in die Literatur von Albert Camus. Zunächst nahm ich mir den Roman Die Pest vor, pandemische Parallelen waren schnell entdeckt. Danach grub ich die Bücher Der Fremde und Der Fall  wieder aus. Dann sah ich mich unversehens nach vielen Jahren wieder mit meinem einstigen Examens-Philosophie-Teilthema Der Mythos von Sisyphos konfrontiert: Camus‘ Versuch über das Absurde.

Jetzt also habe ich mich nach Jahrzehnten der Abstinenz wieder Kafka gewidmet. Ein paar vergilbte Fischer Taschenbücher und Kafka Texte in diversen Anthologien deutschsprachiger Literatur wurden verschmökert; zuerst die Sammlung der Erzählungen Das Urteil in einer holzpapier-vergilbt staubigen Ausgabe von 1957. Das war einst „Beute“ aus dem elterlichen Bücherregal.
Dazu kam reichlich Heruntergeladenes; Hörbücher für die Autobahn füllten vorübergehend mein Handy. Gregor Samsas Verwandlung habe ich mir ebenso vorlesen lassen und zurück in die Erinnerung geholt wie die ungemein heftige Erzählung In der Strafkolonie. Das reicht vorgelesen und füllt die Zeit des Berufspendelns vortrefflich und anregend aus.
Es war wieder eine spannende Episode, einen Klassiker erneut auszuprobieren, Vertrautes zu lesen und Neues zu entdecken. Da gab es Einiges, zum Beispiel hatte ich die Erzählung Ein Landarzt zum Beispiel bisher nicht gelesen.
Interessant aber wenig verwunderlich ist, dass mich Kafka heute ganz anders anspricht als beim ersten Lesen. Damit meine ich nicht Kafka, den Popstar der TikTok-Generation, die ihren ganz eigenen, neuen und legitimen Zugang zur Literatur gefunden hat, was ich gut finde und nicht darüber spekulieren möchte, ob der auch genug Tiefe mitbringt. Selbst wenn: Im gleichen Alter sind wir, als wir Kafka lasen, sicher auch nicht besonders tief eingedrungen in sein Werk und seine Gedankenwelt, haben vieles nicht verstanden, überlesen oder gelangweilt weggelegt. Mein Vorteil war: Kafka war nie Schul- und damit Pflichtlektüre für mich. Und was einer frei- statt verordnet und widerwillig liest, eröffnet sich besser und nachhaltiger.
Es ist ein erheblicher Unterschied, Kafka mit sechszehn oder mit sechzig zu lesen, das bemerke ich schnell. Aber es wäre auch eigenartig, wenn das nicht so wäre. Denn das Gelesene korrespondiert ja immer mit der eigenen Lebenswirklichkeit, den Erfahrungen und Empfindungen. Was das ist, finden Sie sicher selbst gern heraus, vielleicht probieren Sie es einfach und nehmen noch einmal Das Urteil zu Hand. Oder Die Verwandlung. 

Mein Dank geht durch diesen Beitrag zuerst an das Kino, das mir immer wieder kräftige Schubser Richtung Bücherregal und Onlinelexika gibt, mich im Nachgang weitergehend mit dem zu beschäftigen, was ich gerade erst auf der Leinwand gesehen habe. Intellektuelle machen so was wohl.
Dann natürlich an den phänomenalen Dr. Franz, der heute vor einhundert Jahren, am 03, Juni 2024 im österreichischen Kierling im Sanatorium Hoffmann gestorben ist.

Auch unbedingt zu danken ist Max Brod , der es einfach nicht fertigbrachte, Kafkas letzten Willen in die Tat umzusetzen, alle noch nicht veröffentlichten Werke ungelesen zu vernichten. Hätte er es getan, wer weiß, ob wir heute von Kafka noch etwas wüssten.

Was würde ich sonst lesen und mir vorlesen lassen?


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1 Antwort

  1. Für mich war Kafka tatsächlich Schullektüre. Aber ganz freiwillig. Ich hatte mir Kafka vor beinahe 50 Jahren herausgesucht als Thema im Vorabitur. D.h. ist habe damals alles gelesen, was es von ihm und über ihn in der Provinz gab, also eben die drei Romane, die meisten Erzählungen und eben den Brod. Damals war Kafka noch nicht so Kult wie heute. Und ich war in den letzten Monaten völlig überrascht, wer plötzlich sich alles über F.K. zu Wort meldete. Und ich werde jetzt mal das tun, was du auch angefangen hast: ihn nochmal nach vielen Jahren neu lesen. Und gucken, was das mit mir macht. Mich hat er damals schwer beeindruckt. Aber seitdem habe ich doch viel gelesen und erlebt. Und ich werde ihn wohl völlig anders erfahren als damals. Mal sehen. In den letzten Wochen hatte ich die Zeit nicht. Es wird also wohl Herbst werden bis ich über meine Erfahrungen berichten kann. Ich bin schon neugierig. Vielleicht warte ich auch bis es Winter ist. Dann passt das besser: „Es war spätabends, als K. ankam. Das Dorf lag in tiefem Schnee. …“