Fahrraddiebe und andere Nervbratzen
Es gibt eine weitere Geschichte zu erzählen, die den im vergangenen Jahr erzählten Geschichten von „Benno“, dem Flüchtlingskind nicht unähnlich ist. Vielleicht erinnern Sie sich: Ob Bob oder Bike – Benno hat beides erfreut. Und uns auch. Heute ist es die Geschichte von G. , der ebenfalls Flüchtling ist; und es geht um Fahrraddiebe und Nervbratzen.
G. stammt aus Syrien und ist wie viele seiner Landsleute vor dem Terror und dem Morden geflohen. Angesichts der Bilder in den Nachrichten, die uns täglich von dort erreichen, ist das mehr als nur verständlich – auch wenn bestimmte Bevölkerungskreise in unserem Land das anders sehen.
Nun lebt G. in der Nähe einer deutschen Großstadt, kämpft mit deutschen Gepflogenheiten und Gebräuchen, mit Befindlichkeiten und Empfindlichkeiten, mit Heimweh und Sorge um die Menschen in seiner Heimat – wie es die meisten Flüchtlinge tun. Er ist auf dem Weg der Integration in unsere Gesellschaft, was ein weitaus schwierigerer Prozess ist, als sich so mancheiner vortellen kann – oder will. Aber das ist ein anderes Thema…
Ich kenne G. nicht – aber ich lese von ihm auf Facebook. Wenn ich ehrlich bin: Weniger von, als über ihn.
G. – so erfahre ich – ist ein begeisterter Rennradfahrer und übt diesen Sport mit Hingabe aus. Ich kann es mir nicht anders vorstellen, als dass er, wenn er sich auf’s Rad schwingt und in die Pedale steigt, den Kopf frei strampelt – durchatmet, bei sich ankommt, vieles zumindest eine Zeitlang hinter sich lassen kann und nur er selbst ist – und sein darf.
Sportler kennen diese Erfahrung – vor allem Menschen, die Ausdauersportarten betreiben. Egal, ob Schwimmen, Laufen, Radfahren oder alles drei: Es gibt diese Augenblicke, in denen man nur bei und in sich ist, von niemandem gestört, bedrängt, belabert, bedroht – es zählt nur der Augenblick und die Bewegung. Das ist fast wie eine Trance. ein Glücksmoment, eine Lebensnotwendigkeit.
Mag sein, dass das schwer nachzuvollziehen ist für Menschen, die mit Sport nur wenig am Hut haben. G. also radelt und radelt und radelt. Er hat sich mühsam das Geld für ein gebrauchtes Rennrad zusammengespart. Viel ist es ja nicht, was Asylanten zur Verfügung haben und die Rennmaschinen kosten ein Vermögen.
Es könnte so schön sein. Ist es auch.
Bis zu dem Tag, als G. im vergangenen Herbst sein Rad in der Flüchtlingsunterkunft, in der er untergebracht war, gestohlen wurde. Fahrraddiebstahl ist hierzulande gang und gäbe. Es ist immer ein großes Ärgernis, aber heutzutage eher selten ein derart existentielles Problem, wie es Vittorio de Sica in seinem ebenso grandiosen wie bewegenden Film Ladri di Biciclette (Fahrraddiebe) 1948 geschildert hat.
Auch für G. ist es kein existentielles Problem – vor allem nicht, wenn man sich vor Augen führt, was der Syrer in seinem Leben bereits alles durchgestanden hat. Trotzdem ist er verzweifelt. Das ist verständlich.
Verzweifelt über den Diebstahl und noch verzweifelter, dass er nun seinen geliebten Sport nicht mehr ausüben kann. Zumindest so lange nicht, bis er das Geld für ein neues Rad beisammen hat. Wie aber soll das gehen?
Von G. und seiner Geschichte also höre ich, weil sich einer meiner FB-Kontakte bemüht, das Geld für ein neues Rad zusammenzubekommen, um es G. zu leihen, bis er es in kleinen Raten zurückgezahlt hat. So der Plan. Ein halbwegs sinnvolles Trainingsgerät, so P., die das Ganze in die Hand genommen hat, kostet gebraucht ca. 500 Euro.
Das ist zu viel, als dass sie es allein aus ihrer Portokasse nehmen könnte, um damit für C. ein neues Rad vorzufinanzieren. Aber wenn, so fragt sie, man das zu mehreren schultert, und G. es nach und nach zurückzahlt, dann könne G. schon bald wieder im Sattel sitzen.
Als ich das lese, muss ich nicht lange zögern, meine Hilfe zuzusagen. Es ist nicht das erste Mal, dass wir einem Flüchtling Geld geliehen haben und dieser das abgestottert hat. Und bisher kam alles zurück. Außerdem weiß ich, dass uns mein Beitrag an dem Finanzierungsprojekt finanziell nicht an die Belastungsgrenze bringt. Also sage ich zu. Ich weiß, wie frustrierend es ist, wenn ich keinen Sport machen kann, aber es unbedingt will.
Die Reaktionen anderer Facebooker auf diese Bitte um Beteiligung an der Vorfinanzierung , sind wie zu erwarten gemischt: Einige sagen spontan zu – vor allem Sportler. Sie wissen um das Dilemma. Andere Kommentare sind eher ärgerlich. Sie beschränken sich nur auf kluge, schulmeisterliche Belehrungen: G. solle gefälligst warten, bis er sich das Geld selbst zusammen gespart habe. So lerne er, verantwortungsbewusst hauszuhalten und sich nur das anzuschaffen, was er sich wirklich leisten könne.
Das kommt vermutlich von denen, die daheim eine Wohnwelt auf Ratenkreditkauf stehen haben.
Ein weiterer äußert sich, er hätte halt besser auf sein Rad aufpassen müssen, jetzt wisse er ja wohl, dass er auf sein Hab und Gut achten müsse. Die eine Antwort ist so wenig hilfreich wie die andere. Beide sind so spießig-deutsch und oberlehrerhaft, dass ich noch am gleichen Tag P. eine Nachricht zukommen lasse: Ich bin dabei. Diese Menschen mit ihrer Zeigefinger-Mentalität nerven mich noch mehr als die Fahhraddiebe. Nervbratzen sind das.
Die Finanzierung steht, P. löscht ihren Aufruf, bevor es ausartet und am Ende vielleicht noch einer meint, man müsse ja wohl auch mal an die bedürftigen Deutschen denken, die Obdachlosen allem voran, ansatt es den Flüchtlingen vorne und hinten reinzuschieben, und was sonst in solchen Diskussionen immer an Stereotypen zusammengekräht wird.
Als ich P. das Geld überweise, denke ich ganz nebenbei daran, dass ich es aus dem Erbe von meinem Vater abzwacken werde. Und das tut nun wiederum mir besonders gut. Denn angesichts solch laxen Umgangs mit „seinem“ damals hart erarbeiteten und zusammengesparten Geld wird er sich vielleicht im Grab umdrehen. Soll er es ruhig versuchen. Es wird nicht gelingen
Kurz vor Weihnachten schickt mir P. ein Bild von dem neuen Rad:
Und mit einem wunderbaren Eintrag auf ihrer FB-Pinwand bedankt sich G. bei Frau P. Das muss ich hier einfach wiedergeben:
Ich bin sicher, er wird sein neues Rad gut unter Verschluss halten. Und die erste Rückzahlung wird nicht so lange auf sich warten lassen.
Vielen Dank fürs Lesen.
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Manchmal ist es so einfach, sich selbst eine Freude zu machen. Und der Nebeneffekt in diesem Fall: G. hat ein „neues“ Trainingsgerät. Ich jedenfalls bin immer sehr erfreut, wenn ich im Rahmen meines Ehrenamtes und auch in Privaten anderen helfen kann. Und jetzt lasse ich diese Portion Gutes noch ein bisschen auf mich wirken. Ist nämlich auch was Tolles. Merci.
Schöne Geschichte, noch schönere Aktion! Weil ohne Sportgerät, das knabbert am Grundbefinden.
Ein sehr toller Beitrag. Danke, dass du gespendet hast. Ich finde es Schade, dass wir in Deutschland eine solche Neidkultur und Besserwisserkultur haben. Aber zum Glück sind ja nicht alle Menschen so :)
Gerne mehr solcher Artikel, wobei ich ja hoffe, dass eher weniger Negatives im Vorfeld passiert.
Liebe Grüße
Philipp