Geh mit Gott… Fromme Wünsche in Windsbach

Windsbach ist ein verschlafenes Nest, zählt rund 6.000 Einwohner und liegt zwischen Schwarzach und Ansbach im Herzen Frankens. Unwahrscheinlich, dass ich jemals diesen Ort besucht hätte, wäre ich nicht zuvor im Rothsee geschwommen und auf der Jagd nach noch nicht fotografierten Bahnhöfen für die Seite www.deutschlands-bahnhoefe.de.

So aber setze ich meinen Weg nach Hessen nicht über die Autobahn fort. Stattdessen durchquere ich Franken und klappere Orte ab, in denen man nicht freiwillig tot überm Zaun hängen will. Petersaurach zum Beispiel.

Das Thermometer meldet 36°C, es ist unerträglich heiß und demzufolge gähnend leer auf den Straßen. Die Bahnhöfe finde ich dank Navigationssystem und zuvoriger genauer Adresse auf Google-Maps erstaunlich schnell (mit einer Ausnahme). Manchmal wundere ich mich zwar über die Streckenführung und denke mir, dass es vielleicht auch kürzer gegangen wäre, aber ein Navi ist eben auch nur eine Maschine und noch sind die Zeiten von Skynet nicht angebrochen. Noch nicht.

So komme ich nach Windsbach. Der Bahnhof ist schnell entdeckt, ein Kopfbahnhof. Dead End, wie man so schön sagt, und das stimmt wohl auch.

Alles ganz schön tot hier.
Kein Mensch weit und breit, sengende Hitze. Ein Flirren über dem Horizont. Von irgendwoher weht leise eine Mundharmonika Musik, ein Kojote jault kurz auf, der Wind treibt einen ein Ballen trockenen Gestrüpps vor sich her durch den Staub. Endlos langsam dreht sich ein Windrad, eine Tür schwingt monoton auf und zu, sie quietscht in den Angeln.
Ganz so ist es nicht, aber so ungefähr darf man sich das vorstellen.

Ungern verlasse ich mein gut gekühltes, klimatisiertes Auto. Ich rupfe das Handy aus dem Stromanschluss, unterbreche das aktuell laufende Hörbuch (Klabund: Störtebecker – gelesen von Christian Rode) schieße ein paar Bilder vom Bahnhof Windsbach und begebe mich umgehend in mein Fahrzeug zurück. Um den nächsten Bahnhof ins Navi einzugeben, starte ich die Zündung. Das ist zudem notwendig, um die Klimaanlage wieder in Fahrt zu bringen, denn innerhalb der wenigen Minuten, in der ich die Bilder machte, hat sich mein Auto, das in der prallen Sonne steht, mächtig aufgeheizt.

Bahnhof Windsbach

Nächstes Ziel ist Neuendettelsau – ein zutiefst protestantisches Nest, eine Hochburg der Diakonie samt Diakonissen, einst Zentrum der Inneren und Äußeren Misison.

Noch während ich die Adresse eingebe, sehe ich sie aus dem Augenwinkel. Sie nähert sich zielstrebig meinem Auto, überquert die Straße, kommt direkt auf mich zu.
Mein erster Gedanke: Jetzt gibt es einen Anschiss. Wieso steht da einer mit laufendem Motor am Straßenrand?
„Schalten Sie den gefälligst so lange aus. Denken Sie an die Umwelt…“

Mein zweiter Gedanke: Ein Déjà-Vu: 25 Jahre ist es ungefähr her, da erlebte ich ein ähnliches Szenario, wenn auch unter komplett anderen Wetterbedingungen. Ich pendelte jedes Wochenende aus Frankfurt nach Hause und am Sonntag abend zurück. Ein starker Gewitterregen und Sturm machte die Fahrt ins Rhein-Main-Gebiet zu einer einzigen Qual. Also hielt ich an einer Autobahnraststätte an, um den ärgsten Regen abzuwarten und dann meine Fahrt fortzusetzen. Eine vollkommen durchnässte Frau klopfte an meine Scheibe und bat, ob ich sie ein Stück mitnehmen könne. Wohin sie denn wolle?
Das war ihr offensichtlich egal. Ich bat sie einzusteigen, bot ihr an, sie bis nach Wiesbaden zu einer Raststätte mitzunehmen, danach würde ich die Autobahn verlassen. Die Frau willigte ein. Im Laufe der Fahrt erzählte sie mir viel aus ihrem Leben, vor allem, dass sie gerade auf dem Weg zum Europäischen Gerichtshof sei, um ihren Fall dort vorzutragen. Sie war, das erfuhr ich aus ihren fahrigen Schilderungen, aus irgendeiner psychiatrischen Klinik entwichen, in der man sie ihrer Meinung nach zu Unrecht weggesperrt hatte.
Eine Szene wie aus einem 90er Jahre Psycho-Thriller.

Aber den Großteil der Strecke schlief sie, in Wiesbaden stieg sie wie verabredet aus und machte sich schnurstracks daran, eine weitere Mitfahrgelegenheit zu suchen – egal wohin.
Lange habe ich darüber nahgedacht, ob ich damals einen Fehler gemacht habe, nicht die Polizei zu rufen und mitzuteilen, dass sich dort auf dem Rasthof eine offensichtlich aus der Psychiatrie entflohene Frau befände. Ich habe es nicht getan, sie machte weder einenorientierungs- noch hilflosen Eindruck, auch wenn ich das letztlich nicht beurteilen konnte. So ging sie ihren Weg – vielleicht bis nach Brüssel. Sicher aber nicht nach Windsbach.

Noch während ich darüber nachsinne und „Bahnhofstraße“ in das Navi tippe, klopft es an die Scheibe.
Da ist sie.
Eine Frau unbestimmten Alters. Blondes, langsam ergrauendes, strähniges Haar umrahmt ihr gerötetes Gesicht, Ansätze einer Frisur sind nicht zu erkennen.Sie trägt eine cremefarbene Bluse und eine Strickjacke – und das bei der Hitze.

Wie jemand, der mich wegen des laufenden Motors beschimpfen will, schaut sie nicht aus. Bestimmt will die irgendwohin mitgenommen werden, vermutlich wartet sie vergeblich und das seit Stunden auf einen Bus oder einen Zug, um aus Windsbach fort zu kommen. Wer könnte es ihr verdenken?

Aber auch das ist ein Irrtum.
Ich öffne die Scheibe – ein Schwall Wärme strömt ins Auto, schlägt mir ins Gesicht, treibt mir im Nu Schweißtropfen auf die Stirn.

„Ich wollte Ihnen nur alle Gute wünschen“, sagt die Frau in heller Stimme und im fränkischen Singsang. „Ihnen und selbstverständlich auch Ihrer Familie. Und Gottes Segen auf all Ihren Wegen!“ Ein beseeltes Lächeln huscht über ihr Gesicht.
Zu überrumpelt, um ihr selbiges zu wünschen, bedanke ich mich einsilbig.
„Und eine gute Weiterfahrt.“ Mein KfZ-Kennzeichen weist mich als Fremden auf, als Jemanden, der auf der Durchreise ist. Das hat sie sofort erkannt. „Der Herr sei mit ihnen auf ihrem weiteren Weg!“

„Vielen Dank“, antworte ich noch einmal. Und schon macht sie auf dem Absatz kehrt. Sie gibt mir keine Gelegenheit, ihr nur irgendwas zu wünschen, nicht einmal ein schönes Wochenende.
Sie stapft die Straße hinauf, ist bald hinter der nächsten Kurve verschwunden. Merkwürdig angerührt von dieser flüchtigen Begegnung verharre ich noch einen Moment. Längst ist das Fenster wieder geschlossen, das Auto herabgekühlt. Es wird Zeit, weiterzufahren.

6 Kilometer sind es noch bis Neuendettelsau. Keine zehn Minuten Fahrt bis zum nächsten Bahnhof. Und wer weiß, was noch passiert.
In Franken ist alles möglich.


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1 Antwort

  1. Axel sagt:

    und Gottes Segen von der Familie Müller aus Oggau

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