Das geheime Sterben der Einkaufswagen
Es ist ein Trauerspiel – das war es immer. Denn oft kommt es zu geheimnisvollem Sterben großer Teile bestimmter Arten. Mal ist es der Bambus, der in tausenden von Gärten plötzlich nach der Blüte abstirbt, mal gibt es ein Massensterben der Meisen, die das Bakterium Suttonella ornithocola dahinrafft.
Dass auch Einkaufswagen davon betroffen sind, wusste ich bisher nicht.
Denn dieses Sterben vollzieht sich sehr diskret. Fast so wie bei Elefanten, die sich zum Sterben von der Herde absondern, zurückziehen und sich einen einsamen Ort suchen: Einen Elefantenfriedhof. Das ist natürlich Quatsch – ein Mythos, der längst als solcher enttarnt wurde, sich aber hartnäckig hält, weil er so wunderbar sentimental ist.
Auch Einkaufswagen ziehen sich eigentlich nicht von ihrer Herde, in der sie dicht gedrängt vor Super- und anderen Verbrauchermärkten verweilen, zurück. Und doch entdecke ich immer wieder Exemplare in kolossaler Isolation von ihresgleichen. Sie verlassen ihre natürlichen Habitate und gehen an oder sogar ins Waser.
Als ich im Münchner Norden im Sommer 2016 im Lerchenauer See einen solchen fand, dachte ich, das sei Konzeptkunst. Ich gratulierte hier im Blog dem mir unbekannt gebliebenen Künstler zu dieser großartigen Installation: „Dass der unbekannte Künstler Gewässerter Wagen vor endlichem Ufer ganz bewusst im Flachwasser platziert hat, wird mehr als symbolträchtig. Einsam steht er im flachen Wasser, der Dinge harrend, die vielleicht mit ihm geschehen mögen. Entwurzelt ist er und zugleich zur Untätigkeit verurteilt, wie ein Arbeitnehmer, der Jahre seines Lebens in einer Fabrik verbracht hat und plötzlich in Rente geschickt wird. Er weiß ebensowenig mit sich und der Freiheit anzufangen wie dieser Einkaufswagen… niemand schiebt ihn an, aber es schubst ihn auch niemand umher.“
Aber offenbar habe ich mich geirrt. Denn 2021 entdeckte ich im Eis des Riemer Sees auch einen Einkaufswagen. Tot. Ertrunken? Eforen? An Altersschwäche gestorben? Aber auch da verstand ich das Ganze noch nicht – wähnte dahinter eine vor allem urbane Unart, alles vermüllen zu wollen.
Aber was, wenn gar nicht der Mensch Verursacher dieser dramatischen Bilder ist?
Was, wenn Einkaufswagen sich wirklich zum Sterben an irgendeinen See zurückziehen?
Das geschieht dann vielleicht weniger in Abgeschiedenheit anderer Wagen sondern inmitten belebter Naherholungsgebiete.
Der Tod der Einkaufswagen hat also eine öffentliche Komponente.
Ein stummer Protest?
Stumm deshalb, weil Einkaufwagen keine Stimmbänder haben, also keine Laute von sich geben können, bestenfalls Geräusche.
Bei einem weiteren Besuch am Lerchenauer See (Juni 2022) entdecke ich schon auf dem Hinweg einen toten Einkaufwagen. Alle Viere von sich gestreckt liegt er zu Füßen einer Treppe.
Ist er abgestürzt oder hat er sich diesen Platz selbst zum Sterben ausgesucht?
Einen weiteren entdecke ich auf der Wiese. Einfach umgefallen ist er. Zack – tot – aus – vorbei.
Jedenfalls verstehe ich erst jetzt, um was es hier geht. Und es ist wirklich ein Trauerspiel: Das Sterben der Einkaufswagen.
Noch wissen wir zu wenig, verstehen zu wenig von diesen so sensiblen wie komplizierten Geschöpfen, um zu verstehen, was genau hier passiert.
Aber eines ist gewiss: Erst stirbt der Einkaufswagen – dann der Mensch.
Vielen Dank fürs Lesen.
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