Als Lutz elf war
Lutz P.
Als ich elf war,
- begannen die großen Schwierigkeiten in der Schule. Was in übervollen Klassen zählte, waren nur noch Leistung und gute Noten. Der schützenden Hand (ich kann es nicht anders sagen) meiner Klassenlehrerin entzogen, rauschten meine Noten tief in den Keller.
- hatte ich ein eigenes großes Zimmer. Dort herrschte oft das vollkommene Chaos, aber ich war zufrieden in dieser Welt, dem Rückzugsort. Meine Eltern tolerierten dies soweit es ging. Sie wussten: Alles andere wäre ein Drama in Fortsetzungen geworden. Und so war meine Kindheit nicht nur behütet, übers Ganze betrachtet war sie auch glücklich. Obwohl ich ein verträumtes, oft einzelgängerisches und schwieriges Kind war.
- entwickelte sich im rechten Oberarm eine Knochenkrankheit, die mich über Jahre begleitete. Mehrfach wurde ich deswegen operiert, die Folge war eine Verkürzung des Arms um kaum merkliche 4 Zentimeter. Lange Krankenhausaufenthalte, die Sorgen meiner Eltern um meine Gesundheit, die Angst bei jeder Kontrolluntersuchung prägten die Jahre – davon habe ich in meinem aktuellen Buch ausführlich geschrieben.
- spielte ich noch immer viel mit Lego, mit kleinen Figürchen, ließ ich mich von meinen Eltern überreden, statt Klavierspielen Akkordeon zu lernen, was ein Desaster war.
- konnte ich noch immer nicht richtig schwimmen.
Dies alles und noch viel mehr geschah, als ich elf war. Helmut Schmidt war Bundeskanzler, Deutschland rüstete sich gegen den Terror der RAF, der Vietnamkrieg ging zu Ende wie auch die Diktatur Francos in Spanien. Das erste Yps-Heft mit Gimmick erschien, Der weiße Hai im Kino und Borussia Mönchengladbach wurde Deutscher Meister.
Lutz G.
Als ein anderer, der mit mir den Vornamen teilt, elf war, hatte er nichts mehr von alledem.
Er hatte rein gar nichts mehr und das meine ich wörtlich.
Am Ende hatte er nicht einmal mehr sein Leben.
Die Rede ist von Lutz Gruenstein, der am 27. Januar 1933 in Berlin geboren wurde – Ein paar Tage vor der Machtergreifung der Nazis. Seine Eltern hießen Anna und Hermann.
Ein paar Tage mochte noch alles gut sein, aber dann wendete sich das Blatt. Der von den Nazis geschürte Judenhass entlud sich über Millionen von Menschen, auch über Lutz. Im Jahr 1944 wurde er nach Auschwitz deportiert. Da war er elf. Statt einer behüteten Kindheit hielt das Schicksal für ihn den Tod bereit. Er wurde in einer der Gaskammern des Vernichtungslagers ermordet. Comics, Kino, Fußballmeisterschaft… wenig davon dürfte in seinem Leben je eine Rolle gespielt haben. Wenn überhaupt etwas.
Tag für Tag stellt das Auschwitz-Memorial auf Twitter Menschen vor, die in dem KZ ermordet wurden, so auch Lutz Gruenstein.
Über ihn „stolpere“ ich beim Durchscrollen. Lange betrachte ich das Foto, das ich schließlich herunterlade, um es hier im Blog wieder zu zeigen.
Die Ermordung unschuldiger, wehrloser Kinder macht mich ganz besonders fassungslos, rührt mich mehr und tiefer an als die Erwachsener. Ich weiß, das ist falsch. Jeder von den Nazis ermordete Mensch zählt: Ob jung, ob alt, männlich oder weiblich, mit sympathischem oder verkniffenem Gesicht. Egal, ob Russe, Pole, Franzose, Deutscher, Holländer, Zinti, Roma… Egal ob jüdisch oder nicht, egal ob politisch verfolgt, homosexuell oder wegen einer Behinderung deportiert und schließlich im Rahmen der Aktion T4 umgebracht.
Jeder einzelne verdient es, das man seiner gedenkt. Im Januar habe ich mich an der IRemember Wall von Yad Vashem registriert. Dort wird auf einer digitalen Wand der Holocaust-Opfer gedacht, und mir hat der Zufallsgenerator der Seite die Ukrainerin Shula Dukhovnaya. zugeordnet.
Und nun?
Ich rede mir ein, dass es der gemeinsame Vorname ist, ein nicht allzu häufiger Name, der mir beim Durchscrollen von Twitter sofort ins Auge springt. Wenn ich gelegentlich den Namen Lutz lese oder höre, stutze ich immer. Es könnte was mit mir zu tun haben. Hat es objektiv betrachtet natürlich nicht, aber hier geht es nicht um Objektivität.
In der Datenbank von Yad Vashem suche ich und finde Lutz Gruenstein wieder, dazu ein Gedenkblatt, das von seiner Cousine Hildegard eingereicht wurde.
In einem anderen Leben säße Lutz Gruenstein an seinem Geburtstag (dem Befreiungstag des Vernichtungslagers und der Stätte seiner Ermordung) jetzt hochbetagt vermutlich im Kreis seiner Familie auf einem Sessel in seinem Wohnzimmer. Oder vielleicht an lang gedeckter Tafel in einem koscheren Restaurant seiner Heimatstadt Berlin. Seine Kinder wären bei ihm, seine Enkel, vielleicht sogar schon Urenkel, denn er wäre jetzt 87 Jahre alt. Vielleicht würde er auf ein langes, erfülltes Leben zurückblicken, vielleicht auf ein sehr arbeitsreiches, vielleicht aber auch auf ein sehr angenehmes, recht sorgenfreies.
Auf jeden Fall aber auf eines, dass er in der Wirklichkeit nie hatte. Denn er wurde nur elf Jahre alt.
עליו השלום
Und das macht mich sehr traurig und zugleich wütend gegenüber all denen, die all diese Morde verdrängen, vergessen, bagatellisieren wollen. Daran zu erinnern, damit müsse Schluss sein.
NEIN!
Es macht mich immun gegen Faschismus und Rassismus, es fordert mich auf, immer wieder dagegen NEIN! zu sagen. Im Namen von Lutz Gruenstein, im Namen von Shula Dukhovnaya, im Namen all der anderen Verfolgten, Bedrängten, Gequälten, Ermordeten.
JA! – Es hat auch verdammt viel mit mir zu tun, dem Nachgeborenen, der keine Schuld an dem trägt. Das Gefasel von der Gnade der späten Geburt, die der damalige BirnenBundeskanzler Helmut Kohl 1983 für sich reklamierte, greift nicht. Heute weniger denn je. Das ist der Grund, warum ich den elfjährigen Lutz dem elfjährigen Lutz gegenüber gestellt habe. Er hat sein furchtbares Schicksal so wenig verdient, wie ich das behütete meine. Er wurde zu seinem verdammt, mir wurde meines geschenkt. Ohne unser beider Zutun. Im Gegensatz zu Lutz Gruenstein aber habe ich die Chance, die Aufgabe und die Gnade, in einer Demokratie zu leben, die zu verteidigen es wert ist. Eine Aufgabe für jeden von uns.
So jedenfalls sehe ich das.
PS: Das Foto von Lutz Gruenstein ist höchst wahrscheinlich ein Atelierfoto eines Fotografen. Professionell gestaltet, neutraler Hintergrund, raffiniert arrangiert, exakt ausgeleuchtet. Unwahrscheindlich, dass dieses Bild 1944 kurz vor der Deportation aufgenommen wurde. Lutz Grünstein ist sicher auf dem Bild deutlich jünger als elf Jahre. Bei der Auswahl meines Fotos habe ich daher eines gewählt, auf dem ich auch noch nicht elf bin, es entstand ein paar Wochen vor meinem zehnten Geburtstag – übrigens auch in schwarz weiß.
Heute vor 75 Jahren endete das Widerlichste, Beschämendste, Grausamste, was Deutschland in seiner Geschichte je hervorgebracht hat: Das Terrorregime des Dritten Reiches, die Nazidiktatur, in die sich die deutsche Bevölkerung freiwillig begeben hatte. Wenn wir heute vom 08. Mai 1945 als Tag der Befreiung reden, sollten wir bei all der Freude über das Ende des Dritten Reiches nicht vegessen, für wen diese Befreiung zu spät kam: Millionen und Abermillionen an Opfern.
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Auch mir fehlen manchmal die richtigen Worte. Deshalb sage ich nur: Danke
Drückt man für diesen Beitrag einen Like ?? Ich weiß es nicht ! Ein Like bedeutet “ gefällt mir“ und mir gefällt das gar nicht was ich hier gelesen habe. Nicht vom Verfasser ( großartig geschrieben ) , nein vom Inhalt ! Nicht betreffend das Thema sondern die Geschichte die hinter Lutz G. steht !!! Ein grausiges Thema mit einem noch grausigeren Ende !
Hier wurde ein wehrloser Mensch getötet auf eine Art und Weise die über unsere Vorstellungskraft geht und deshalb werde ich keinen Like drücken !!!!
Das kann ich nachvollziehen. Bei den bisher wenigen Beiträgen, die ich in meiner Blogroll dazu lesen konnte, geht es mir ganz genauso.
Und dann denke ich mir, dass es in dieser Thematik nicht um das Einsammeln von Sternen als Zeichen der Anerkennung geht.
Mir zumindest nicht.
Ich wünsche mir, dass dieser Beitrag viel gelesen wird. Von „meiner Bubble“, aber eben auch von Menschen, die mittlerweile herzlich gleichgültig darauf reagieren oder sogar genervt sind.
Und wenn ich nur Einen erreichen und aus seiner Gleichgültigkeit herausholen kann oder wieder neu motivieren kann, dann war es ein Erfolg für mich.
Eine großartige Aussage, lieber Lutz! So traurig, dass man das heute wieder so betonen muss.