Ohne Renate wäre Prag noch zauberhafter

Prag ist zauberhaft. Nach einer Reise könnte man viel über die Stadt erzählen, aber warum? Es steht doch sowieso alles in den Reiseführern.
Was aber nicht in den Reiseführern steht: Ich habe selten eine Stadt erlebt, die dermaßen von Touristen überschwemmt ist. Mehr Menschenmassen als auf dem Prager Hradschin sieht man höchstens noch am Trevi-Brunnen in Rom oder dem Münchner Oktoberfest. Endlos spucken Reisebusse vor den Toren der Burg Urlauber aus.

Am besten genießt man das Schauspiel der Völkerwanderung von einem Cafe aus. Dann läuft man auch nicht Gefahr, umgerannt oder mitgerissen zu werden. Und Reisegruppen gehen nicht in Cafes, weil dort der blanke Nepp herrscht (sagt der Reiseführer ja auch immer)…

Genau deshalb genießen wir dort die Sonne, beobachten die Massen und sinnieren, aus welcher Nation die vorbei defilierenden Gruppen kommen. Alle Klischees werden bedient: Australier schlappen in Flip-Flops vorbei, Amerikaner kauen alle Kaugummi. Die Männer tragen Caps,  zu kurze Hosen und zu langen Socken. Die älteren Frauen sind zu grell geschminkt und haben die Frisuren hoch getürmt.

Die Italiener sind am elegantesten gekleidet, die Frauen in Sandalen, die Männer haben lässig den Pullover über die Schultern geworfen. Italienische Männer und NUR italienische Männer dürfen das.
Hinter ein paar Sträuchern in Blumentöpfen sind wir selbst relativ blicksicher und beobachten genüsslich, hin und wieder stößt das Teleobjektiv der Kamera zu. Und dann kommt sie: Die graue Wölfin. Reisegruppen sind ihre Sache nicht, sie ist selbst ein Leitwolf, ihre Meute ein Trupp aus vier Personen.
Nennen wir sie Renate, obwohl sie durchaus auch Inge oder Heidemarie heißen könnte.

Die Haare sind raspelkurz, alles ist komplett auf Funktionalität ausgerichtet:  Das Shirt leitet die Feuchtigkeit nach außen ohne Schwitzflecken zu bilden; die Outdoorjacke von Jack Wolfskin ist um die Hüften geschwungen, damit sie die Hände frei hat.
In den Taschen der Trekkinghose befindet alles (Über-)Lebensnotwendige, also vermutlich ein Victorinox-Messer und eine Großraumpackung Taschentücher, vielleicht noch ein paar einzeln verpackte Feuchttücher.
Auf dem Rücken trägt sie nicht etwa lässig einen kleinen Eastpack- oder Jan-Sport-Rucksack. Es muss natürlich ein Trekking-Modell von Deuter sein: Ein Leichtgewicht und trotzdem hochfunktional. Schulterträger, Brust- und Hüftgurt sind festgezogen, damit der Rucksack seine volle Bequemlichkeit behält.
Renate trägt selbstverständlich, was viele Deutsche im Ausland tragen: Trekking-Sandalen. Einige stapfen mit, andere ohne Socken mit diesem absoluten No-Go-Schuhwerk durch Burgen, Kirchen, Fußgängerzonen, Synagogen und Einkaufspassagen. Es ist so abstoßend, dass ich mich schäme , aus dem gleichen Land und Kulturkreis zu stammen.

Aber Ästhetik zählt bei Renate nicht. Sie hat lediglich die Funktionalität im Sinn.
Einen Moment frage ich mich, ob sie sich bewusst ist, dass sie weder zum Nordkap noch durch die Karpaten wandert. Prag ist eine Stadt, nicht anders als München, Hamburg oder Köln. Warum muss sie sich so anziehen, als sei sie  vier Wochen in der Taiga unterwegs? Würde sie sich daheim so für einen Stadtbummel anziehen?
Natürlich weiß Renate, dass sie nicht im Outback ist. Sie hat sich ja auch bestens vorbereitet und serviert ihrer Meute Häppchen an Bildung, die sie aus dem Baedecker-Reiseführer vorliest.
Bildungsbeflissenheit ist groß geschrieben, schließlich ist sie pensionierte Studienrätin oder Buchhändlerin, Architektengattin oder Kanzleivorsteherin, auf jedem Fall aber Permanentgast der VHS, davon zeugt schon das kecke selbstgebastelte Fußkettchen aus dem Schmuckkurs. Sie weiß zu führen und Wissen zu präsentieren.
Als es ihrer Gruppe dann doch zu viel wird, verteilt Renate schnell noch schokofreie Körnerriegel für den kleinen Hunger. Während wir die böhmische Mehlspeise genießen, lässt Renate direkt vor unseren Augen eine Sigg-Flasche kreisen, vermutlich mit selbst gekochtem Matetee ohne Zuckerzusatz. Wohl bekomm’s – und dann schaut zu, dass ihr weiterkommt…


renate-und-das-dienstagsarschloch-klein wk-124Diese und 65 weitere Geschichten, viele davon bisher unveröffentlicht, finden Sie auch in dem Buch RENATE UND DAS DIENSTAGSARSCHLOCH. Das Buch ist ab sofort erhältlich und kann für € 9,90 direkt hier oder mit Geduld und Glück im stationären Buchhandel bestellt werden.

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4 Antworten

  1. Hättest du diese Scheußlichkeiten, diese optische Umweltverschmutzung, nicht für dich behalten können? Jemandem wie mir, der in einer Kleinstadt gefangen ist, in dem es – einziger Trost – wenigsten keinen Tourismus gibt, hätte man das ersparen können. (Das Problem ist leider, das die Renates hier wohnen und auch zuhause nicht eleganter auftreten.)

    Was ich mich frage ist, was Menschen denken, die vermutlich wegen der Kultur und der Schönheit einer Metropole diese Reise unternehmen, bei dem Anblick der anderen unästhetischen und unkultivierten Kreaturen empfinden. Wissen sie dass sie es sind, die den Untergang des Abendlandes mit ihren Funktionsjacken, 7/8 Hosen und Trekkingsandalen verursachen? Dass sie die Innenstädte zerstören in dem sie in den Läden dort diesen Dreck kaufen, der die Mieten für niveauvolle Geschäfte ins Unerschwingliche getrieben haben?

  2. Renate Inge Heidemarie sagt:

    Wie immer großartig! Ich lach mich schlapp. Als nächstes Modethema vielleicht passend zum Wiesn Beginn: weltweite Oktoberfest Besucher und das bayer. Gwand.
    Drindl, Trachten und Lanhausmode

  3. Matthias sagt:

    Und in einem irrst du leider. Selbstverständlich laufen die Renates und Heidemaries genauso durch Köln, München oder Hamburg. Selbst in meiner Heimatstadt Konstanz vergraulen sie einen inzwischen das Flanieren durch die Altstadt.

  4. qwertz sagt:

    Die Trekkingsandale gehört heute genauso zum Stadtbild, wie der Turnschuh! Beide waren niemals für den Alltag gedacht und trotzdem haben sie sich durchgesetzt. Im Übrigen ist das T-Shirt, die Jeans- und Cargohose eine Arbeiterhose, das Polohemd entliehen aus dem Polosport, die Funktionsjacke aus dem Bergsport. Eigentlich bleibt unterm Strich nicht mehr viel übrig bis auf Baumwoll-Hemden, -Jacken,- Hosen und Lederschuhe.
    Persönlich stoßen mich anderen Entwicklungen viel mehr ab. Dazu gehören Tätowierungen und Piercings. Einfach widerlich! Zugegebenermaßen die Stocken in Sandalen auch.

    Den Mann rechts im Bild, empfinde ich als sehr passend gekleidet für den Sommer.
    https://www.produkte24.com/images/catalogs/1275/39585/ct/jack-wolfskin-katalog-fruehjahr-sommer-2013-000094.jpg

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