Mehr Herbst – Mehr Wald (Rügen #2)
Irmgard (Name geändert) ist genervt, der Bus kommt nicht. Norbert (Name nicht geändert), der Gatte der Mittsiebzigerin, steht immer wieder von den Sitzgelegenheiten im Bushäuschen auf, schaut auf die Uhr, schaut auf den Abfahrtplan, schaut die Straße entlang. Vom Bus allerdings ist nichts zu sehen.
Irmgard, die längst einer anderen Urlauberin, einer jungen Mutter samt zwei Töchtern, ein Gespräch aufgedrängt hat, macht aus ihrem Unmut keinen Hehl. Von Rügen, so sagt sie, sei sie enttäuscht, da habe sie etwas anderes erwartet. Als unfreiwilliger Zeuge des Gesprächs erfahre ich, dass das Ehepaar aus Lünen bisher immer die ostfriesischen Inseln der Nordsee bereist hat. „Hier kommt man sich gar nicht vor wie auf einer Insel!“ Und das gefällt Irmgard nicht. Und der Bus kommt auch nicht – also nörgelt sie. Erst als unser Bus kommt, die Frau samt Töchtern und wir einsteigen und Irmgard samt Norbert im Wartehäuschen Binz Ortsmitte zurücklassen, gibt sie Ruhe. Ist ja auch niemand mehr da, der ihr zuhören könnte – außer Norbert.
Tags drauf muss ich an Irmgard denken. Wir verlassen Binz vom Parkplatz am Klünderberg und wandern durch den Wald der Granitz, ein Landstrich südlich des Ortes, der zum Biospährenreservat Südost-Rügen gehört. Teile davon, stehen zusätzlich unter Naturschutz. Unser Weg führt uns durch die bereits in Augenschein genommenen Rotbuchenwälder parallel zur Küste, die man aber kaum mehr wahrnimmt. Irmgard hat schon Recht: Man merkt nicht, dass man auf einer Insel ist.
Muss man aber auch nicht. Ein breiter Waldweg führt uns durch die herbstliche Landschaft, es ist viel los: Jogger, Wanderer, Radler, Spaziergänger, Ausflügler, Pilzesucher drängt es an diesem nassen Vormittag hinaus in die Natur. Der Regen hat aufgehört, aber es feuchtelt noch überall. Irmgard und Norbert, so denke ich mir, würden eine solche Wanderung nicht machen.
Zum Einen sehen sie nicht so aus, als würden sie überhaupt mehr als einen Kilometer am Stück zu Fuß gehen. Zum Anderen möchte Irmgard ja authentisches Insel-Feeling. Im Wald rumlaufen kann sie ja auch daheim, dafür muss sie nicht quer durch Deutschland von Westfalen nach Vorpommern reisen, wäre wohl eine geeignete Bemerkung, die ich ihr in den Mund lege. Stimmt. Durch den Wald kann sie auch bei Lünen laufen, so wie ich auch hinter unserer Haustür. Aber darum geht es nicht.
Jeder Wald ist anders, hat seine individuellen Seiten, Stimmungen, Motive. Davon gibt es reichlich in der Granitz, die Kamera lege ich relativ selten aus der Hand. Verwelkenden Farn kann man natürlich überall fotografieren, dazu muss ich nicht mal unser Grundstück verlassen. Aber wer so denkt, hat Reisen nicht verstanden…
Wieder pilzt es. Ein Fliegenpilz erregt meine Aufmerksamkeit, möchte fotografiert werden. Zur Verschönerung des Bildes entferne ich ein nasses Buchenblatt, das auf der Pilzhaube liegt. Ist das zulässig? Im Naturschutzgebiet? Muss ich das Blatt nicht anschließend wieder exakt so platizeren wie es war? Wer weiß, welchen Schmetterlingsprozess das auslöst, wenn ich das Blatt nicht wieder auf den Pilz lege.
„Die große Wiese“, ein Kesselmoor liegt am Wegesrand, wir beschränken uns auf ein paar Blicke, es führt kein Pfad hindurch. Und das ist wohl auch gut so. Naturschutz gerät schnell in Mitleidenschaft, wenn Menschenmassen durch solche geschützte Biotope stapfen. Ob nun auf Rügen, daheim oder bei Irmgard und Norbert in Lünen.
Die Raupe eines Streckfußes, gern auch Buchenrotschwanz genannt, kriecht über den Weg. Vielleicht mag sie es nicht, dass ich sie auf ein Blatt kriechen lasse und dieses dann am Wegrand ablege. Vielleicht wollte sie auf die andere Seite. Da sich aber ein Tross Radfahrer näher, fände ich es schade, wenn die Raupe im Gummiprofil eines Mountainbikes ihr Ende findet, bevor sie sich in den deutlich unansehnlicheren Falter verwandeln wird. Schon wieder greife ich in die Natur ein.
Man kann so viel im Wald erleben, sehen, beobachten, entdecken. Man muss sich nur die Zeit nehmen und hinsehen.
A propos Irmgard und Norbert: Noch eines können die beiden daheim im eigenen Wald nicht anschauen und deshalb lohnt sich eine Wanderung auf Rügen: Das Jagdschloss Granitz findet man eben nur hier. Dereinst wurde es erbaut von Wilhelm Malte I., ein kleines klassizistisches Juwel inmitten des Naturschutzgebiets, auf einem Hügel errichtet und dank Karl Friedrich Schinkel mit einem Turm ausgestattet, der ursprünglich so nicht vorgesehen war.
Das Schloss ist das eigentliche Ziel unserer Wanderung, die rund 9 Kilometer lang ist. Mn hätte auch schneller dort sein können, aber wir wollten ja wandern.
Selbstverständlich besuchen wir das Schloss. Auch wenn es ganz und gar nicht dem Inselbild Irmgards entspricht. Oder gerade deshalb.
Und selbstverständlich erklimmen wir den Turm – auch wenn das für einen wie mich eine ganz besondere Herausforderung darstellt. Die eiserne Treppe hängt nämlich ohne jedwede weitere Konstruktion nur am Innengemäuer, wird nicht abgestützt und ist – das ist das Allerschlimmste – nach unten nicht blickdicht. Rauf geht es noch, runter ist es wieder eine Nahtoderfahrung. Ich weiß schon jetzt: Der Abstieg ist ein Kraftakt, Willen gegen Gefühl, bloß keine Panikattacke, den Blick am besten nur auf die Wand gerichtet, keinesfalls nach unten.
Oben angekommen weht uns ein kräftiger Wind um den Kopf. Der Blick über Rügen, über die offene See, hinüber nach Stralsund und den Greifswalder Bodden ist phantastisch.
Da merkt man erst mal, was man davon hat – auf einer Insel zu sein.
Mehr Impressionen von Rügen im Herbst?
Hier: Mehr Insel – Mehr Wald – Mehr Roland – Mehr Kreide – Mehr Vögel – Mehr Strand.
Vielen Dank fürs Lesen.
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Wunderschön. Mein Tipp an Irmgard … einfach zuhause bleiben. Das spart Geld und Nerven. Lach …
Super,der Herbst ist für mich die schönste Jahreszeit.