Frauen der Boheme – aus Männersicht
Armut bringt außer Weisheit auch Verdruss
Und Kühnheit außer Ruhm auch bitt’re Müh’n
Jetzt warst du arm und einsam, weis‘ und kühn
Jetzt machst du mit der Größe aber Schluss
Dann löst sich ganz von selbst das Glücksproblem
Nur wer im Wohlstand lebt, lebt angenehm!
Bert Brecht: Ballade vom angenehmen Leben aus der „Dreigroschenoper“
Warum nur gehen mir diese Liedzeilen nicht aus dem Kopf – vor allem nicht, als ich in aller Ruhe nach einer höchst informativen Führung noch einmal durch die Ausstellung Frei leben! Die Frauen der Boheme. 1890–1920 in den Räumen der Monacensia schlendere?
Brecht hatte mit der Boheme, jener künstlerisch-intellektuellen Bewegung in München um 1900 kaum Berührungspunkte, er gehörte nicht dazu. Er war viel zu jung.
Gleichwohl skizziert er in der Ballade des angenehmen Lebens genau das, was das große Problem vieler Mitglieder der Boheme knapp dreißig Jahre und einen Weltkrieg vor diesen Zeilen war: Die Armut, entstanden aus der Freiheit, von der Kunst leben zu wollen, einer Kunst, gegenüber der die bürgerlich konservative wilhelminische Gesellschaft nicht unbedingt aufgeschlossen war. Aber das „das Aufbegehren gegen gesellschaftliche Schranken und bürgerliche Moral,“ wie es in der Information zur Ausstellung heißt, stand über der wirtschaftlichen Absicherung der Boheme. Und das traf die Frauen ganz besonders: „Freiere Formen des Zusammenlebens, Selbstbestimmung über den eigenen Körper und über ihre Sexualität sind ebenso zentrale Themen wie Unabhängigkeit, ,freie Mutterschaft‘ und Prostitution“ – das war eine Kampfansage an gesellschaftliche Normen, an das Patriarchat und an die selbstverständliche Unterordnung der Frau, an die Ehe als einzige Perspektive für die Frauen, wirtschaftlich abgesichert zu sein.
Nicht von ungefähr kommt, dass sich die Autorinnen der Boheme im wahrsten Sinne des Wortes, prostituieren mussten, um überleben zu können. Sehr offen berichtet Margarete Beutler (1876-1949) darüber, sehr viel diskreter Franziska zu Reventlow (1871-1918).
Die Dritte im Bunde, der die Ausstellung Frauen der Boheme großen Raum bietet, ist Emmy Hennings (1885-1948).
Die drei Frauen eint, dass sie nicht nur Teil der Boheme waren, sie teilten auch die gemeinsamen Ideen, die Suche nach adäquaten Lebensformen außerhalb des damals sehr engen Korsetts der Ehe. Sie heirateten, ließen sich scheiden, hatten Kinder, leben in finanziell schwierigen Verhältnissen ohne Absicherung durch festes Einkommen, literarischen Erfolg. Und zumindest zwei von ihnen trieb die Not buchstäblich auf die Straße, also in die zeitweilige Prostitution.
Das alles, weil sie eben nicht nur Gattinnen sein wollten.
Rund 20 Bloggerinnen und zwei Blogger (einer davon ich) sind an einem Mittwochabend im Juli in die Monacensia gekommen, um sich fachkundig von der Leiterin Anke Buettner, Sylvia Schütz, die die Gesamtkonzeption verantwortet, Kuratorin Laura Mokrohs und Thomas Schütte, dem Archivleiter der Monacensia durch die Ausstellung führen zu lassen, wieder einmal perfekt organisiert von Dr. Tanja Praske, Kultur-Museum-Talk, die für die Digitale Vermittlung und damit für uns Blogger*innen zuständig ist.
Nach der Ausstellung zu Erika Mann 2019, die zu einer kleinen Schockverliebtheit führte, bin ich sehr gespannt, ob sich diese Erfahrung wiederholen lässt.
Spoiler: Dem ist nicht so, allerding beeindrucken mich diese drei Frauen, um die es schwerpunktmäßig geht, enorm. Auch dieses Mal kann ich sagen, es wäre ein unbedingter Gewinn, einen Abend mit Emmy Hennings, Margarete Beutler und/oder Franziska zu Reventlow vielleicht bei ein paar Gläsern Wein zu verbringen und ihnen einfach zuzuhören. Ganz vielleicht auch mal die eine oder andere Frage zu stellen. Denn alle drei haben hatten ihrer Zeit viel zu sagen.
Besonders angetan hat es mir dabei die graphische Umsetzung ihrer Portraits, einmal in der Schraffur, wie sie in der Ausstellung hängen und dann in den Stilisierungen, wie sie die Monacensia mittlerweile gemeinfrei zur Verfügung stellt – so dass sich alle, die wollen diese Artworks zum Beispiel auf T-Shirts, Tassen oder sonstwohin übertragen können
Und welche beeindruckt mich ganz besonders?
Ich widerstehe der Versuchung, der Frage „Wenn Du Dich entscheiden müsstest, welche der drei fändest Du am interessantesten bzw. spannendsten?“ nachzugehen – nicht zuletzt, weil das gar nicht zur Debatte steht.
Wer so denkt, hat das Konzept der Ausstellung nämlich nicht im Ansatz verstanden. Sie stehen nicht in Konkurrenz zueinander und werden auch nicht so präsentiert, als ging es darum, eine persönliche Favoritin zu küren.
Es ist so faszinierend, wie weit die Frauen im Denken waren und zugleich frustrierend, weil nach 120 Jahren viele der Gedankensplitter und Sentenzen noch immer aktuell sind An den Wänden stehen Zitate der drei, Parolen (positiv gedacht) von starken, kämpferischen Literatinnen, die nichts anders wollten als ein freies, selbstbestimmtes Leben führen zu können.
Vieles, was sie um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhunderts formulierten, ist heute noch immer gültig, noch immer nicht in den Köpfen unserer Gesellschaft angekommen und bisweilen gewinnt man den Eindruck wir, entfernen uns als Wertegesellschaft – mal über die Grenzen unseres eigenen Landes hinaus betrachtet – im Gegenteil mehr davon weg als darauf hin, Frauen diese Rechte einzuräumen, die ihnen unbedingt zustehen. Hier gibt es nach wie vor enorm viel zu tun.
Wie bereits beim Blogger*innenwalk zu Erika Mann zeigt Archivar und Historiker Thomas Schütte wieder ein paar Exponate, so die Tagebücher von Franziska zu Reventlow.
Man sei, so erzählt er, überein gekommen, das Archiv zu digitalisieren und interessierten Menschen so Zugriff auf diese Quellen zu geben – eine lohnenswerte wie mühsame Arbeit, da das Interesse groß sei, aber die Handschrift der Autorin nur schwer entzifferbar ist. Aufgeschlagene Seiten eines Tagebuchs zeigen dies überdeutlich.
Der Abend endet mit einer kleiner Performance des Traunsteiner Künstlers Florian Kreier. Von der Empore aus singt er einen Song, greift unter sich und lässt kurz darauf hunderte Papierschnitzel auf die Bloggerinnen herunterregnen. Dann steigt er von der Empore und verschwindet hinter einer Tür.
Einfach so. Das war’s.
Ratlosigkeit macht sich breit, auch Stille in der Erwartung, was passieren wird. Aber es passiert nichts. Ganz große Kunst.
Irgendwann machen sich die ersten auf, bücken sich, studieren die Zettel. Es sind kurze, sehr kluge Sätze.
Einige fotografieren diese (hallo, wir sind schließlich permanent dabei, auch alles live zu twittern). Einige stecken die Texte nachdenklich ein.
Ein paar Tage später hole ich die vier Papierstreifen, die ich mitgenommen habe, wieder hervor, um sie für den Blogpost abzuschreiben und darüber nachzudenken:
Dein schönes freies Leben
provoziert heute die gleichen Menschen
zu den selben Klischees
Man sagt du hast dein Leben
gelebt ich denke du hast alle deine
Leben gleichzeitig gelebt
Gut, dass du deiner Sehnsucht nach
einem gedeckten Bankkonto nur in deinen
Gedanken nachgestiegen bist
Du wirst für alle
Zeiten immer gleich
relevant sein
Vielen Dank fürs Lesen.
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Lieber Lutz,
wieder einmal bin ich begeistert, wie du die Ausstellung, die Frauen und die Themen erlebt hast, wie sie bei dir nachwirken und dich zu Parallelen angestiftet haben. Das begeistert auch das Team der Monacensia, sehen wir doch so, das Vermittlung dieser Art lohnenswert ist, da Impulse zu neuen Gedanken führen. Dafür danken wir dir sehr!
Wir freuen uns auf ein nächstes Treffen und weitere Gespräche mit dir!
Herzlich,
Tanja, Digitale Vermittlung Monacensia
Liebe Tanja,
es war wieder ein großes Vergnügen, ich mag solche Ausstellungen und Themen, die das Hirn in Bewegung setzen. Es ist so wertvoll, bereichernd und den Horizont erweiternd. Daher komme ich auch sicher beim nächsten Mal wieder – gern auch als Quotenmann :)
Liebe Grüße
Lutz