Die Brille der Erinnerung ist golden – Rust 2020
Die Brille der Erinnerung ist golden – ein Sprichwort, dass ich irgendwo mal aufgeschnappt habe und mit zunehmenden Jahren mehr und mehr bestätigen kann. Denn der rückwärts gewandte Blick neigt zur Verklärung, wenn nur der Abstand groß genug wird. zum Beispiel der zu meiner Kindheit. Oder anders ausgedrückt – das Foto, das ich vor kurzem hier (mal wieder) gezeigt habe, ist zwar nicht golden sondern schwarz-weiß, aber die Erinnerungen an die Zeit von vor mittlerweile über einem halben Jahrhundert (ja, so alt bin ich) als ich fünf Jahre alt war, lassen überwiegend die schönen Momente durch und dazu gehört ganz sicher der erste Urlaub in Rust am Neusiedler See in Österreich, zu dem uns mein Großvater begleitete.
Der war damals schon fast siebzig, er selbst ist spät Vater geworden, und er hing mit einer unglaublichen Liebe an seinen beiden Enkelsöhnen.
Über 50 Jahre späte gibt es den Steg nicht mehr, auf dem das Foto gemacht wurde, das Ruderboot, das den Namen Robby trug, auch nicht mehr, meinen Großvater natürlich ebenfalls nicht mehr. Über die Segeljolle weiß ich nichts.
Aber die Badehütte in der Ruster Bucht, die gibt es noch. 1968 hatten meine Eltern sie mit Hilfe meiner Großeltern und der Schwester meiner Mutter samt ihrem ersten Mann gekauft und nach und nach immer opulenter ausgestattet. Von 1969 an verbrachten wir jeden Sommer dort – eine irre lange Anfahrt und Rückfahrt war da kein Hindernis.
Bis 1983 war ich eigentlich jeden Sommer in Rust am See, danach nur noch sporadisch, auch mit der eigenen Familie und irgendwann gar nicht mehr.
1999, im Jahr, in dem meine Mutter an Krebs starb, verkaufte mein Vater die Hütte.
Für uns alle war damit ein Kapitel abgeschlossen.
Vorbei, verweht, nie wieder.
Nicht ganz.
Viele Jahre war ich nicht in Rust, wenn wir im Burgenland waren, dann bei Verwandtschaftsbesuchen, nicht in Rust und schon gar nicht am See.
In diesem Jahr allerdings schon.
Es ist sonderbar, gemeinsam mit meinem Bruder und seiner Freundin fahre ich in so einem Elektroboot; wie ein Tourist (die wir ja auch sind), und die früher verachteten, wenn sie neugierig glotzend an den Hütten entlang fuhren und uns dort beim Baden, Segeln, Surfen, Sonnen, Essen oder was auch immer begafften. Und vielleicht auch beneideten. Ich weiß es nicht.
Gute Gründe dazu jedenfalls hatten sie, denn für uns waren es wunderbare Urlaube. Wie sonst lässt sich erklären, dass wir nicht meuterten, wie öde es sei, jedes Jahr wieder dorthin zu fahren? Wie sonst lässt es sich erklären, dass wir das beide noch mit 18 machten, als andere längst schon keinen Gedanken mehr an gemeinsame Urlaube mit den Eltern verschwendeten?
Jetzt aber erlauben wir uns nicht viel mehr als eine Stippvisite.
Was habe ich gehofft, dass weder die neuen Besitzer, denen die Hütte nun auch über 20 Jahren gehört, sofern es noch die gleichen sind, noch die Nachbarn bzw. deren Kinder, die auch in unserem Alter sind nicht vor Ort sind. Bloß niemanden treffen, bloß von niemandem gesehen, geschweige denn sogar erkannt und angesprochen werden – wir hatten Glück.
Die Schlagläden sind zu. Außer vielen Möwen, die meine Mutter so gehasst hat, weil jedes Mal alles vollgeschissen war, wenn wir ankamen, ist niemand da. Auch auf den Nachbarhütten nicht. Zumindest im Moment nicht.
Nur schnell ein paar Fotos, und die obligatorischen „Weißt Du noch…“, „Wie hieß der noch, dem diese Hütte gehörte?“, „Ob der X noch lebt?“
Der Fahnenmast, unnütz bis auf die Befestigung der einen Seite einer Hängematte und doch der ganze Stolz meines Vaters, steht immer noch, Selbst das alte orange Plastikboot namens „Felix 2“ gibt es noch. Es liegt vertäut hinter der Hütte.
Wehmut?
Nein.
Es ist gut so, wie es ist.
Dann geht es mit dem E-Boot am Yacht-Club vorbei wieder hinaus aus der Bucht.
Schwimmen kann man im See nicht mehr, die Wassertiefe beträgt kaum mehr als einen halben Meter und mindestens ebenso stark ist die Schlammschicht am Grund, bevor man festen Boden unter den Füßen hat. Ich habe es weiter vorne am Strandbad hinter dem ausgebaggerten Bereich ausprobiert. Es macht keinen Spaß. Die Strecke, die ich mir tollkühn ausgedacht hatte, endet nach wenigen hundert Metern. Es ist einfach nicht schön, bei rund 40 Zentimetern Tiefe Furchen durch den grauen Schlamm zu ziehen.
Knien im Schlamm, ja, das kann man. Und trotzdem den Kopf über Wasser halten. Damit schmeißen, wie wir es früher gerne gemacht haben, das geht auch. Eine ordentliche Schlammschlacht halt. Mein Bruder, mein Cousin und der Mann meiner Cousine und ich – wie die kleinen Kinder. Wie früher.
Was eine Gaudi.
Weiter draußen ist es etwas besser, der See ist ein wenig tiefer. So flach wie jetzt war der See in meiner Kindheit nicht. Und sage jetzt keiner, dass ich damals durchaus ein zwei Köpfe kürzer war.
Merkwürdig mutet es an – wie ich es von früher kenne, liegt an diesem Augusttag eine bleierne Hitze über dem trüb-braunen Wasser. Es geht kaum ein Luftzug, Segler quälen sich mehr auf der Suche nach jedem Lufthauch, als dass sie Fahrt aufnehmen. Wie dünne Striche liegen die Schilfinseln im See. Als Kind kamen sie mir unendlich weit weg vor, selbst bei klarer Sicht. Aber sie sind lächerlich nah.
Nach einer Stunde müssen wir das Boot zurückgeben – und so endet ein Ausflug an den See und in die Kindheit, in die Erinnerungen.
Ein halber Tag im Strudel der Erinnerungen – und im Schlamm.
Schön war’s.
Auch als Tourist.
Vielen Dank fürs Lesen.
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Danke.
Alles hat seine Zeit – schön war es damals. Auch die Reise in die Vergangenheit war lustig und etwas wehmütig. Für mich als Kind war es ein Abenteuer, Freiheit auf dem Wasser, ohne Strom und irgendwie archaisch – an Land nur mit Boot. Segeln, surfen, schwimmen unbeschwerte Tage. Heute würde ich diese Art von Urlaub sicherlich auch noch machen – aber eben nicht nur in Rust. Aber vielleicht demnächst noch einmal…