Lost Places: Das Scherbenhaus

Bei jedem Schritt knirscht und knarzt es unter den Schuhen. Überall auf den Holzdielen liegen Glasscherben. Es ist ein Scherbenhaus.

Im Scherbenhaus

Nein. Natürlich ist es nicht wirklich ein Scherbenhaus, es ist ein Bauernhaus, bzw. es war einst eines. Und das war gar nicht mal so klein.

Im Scherbenhaus

Heute ist es ein Lost Place im Freisinger Landkreis.
Es war nicht ganz so einfach zu finden. Obwohl er fast direkt neben der Straße liegt, verbirgt sich der alte Hof hinter Büschen und Bäumen, einige wachsen bereits zum Fenster herein. Denn kein Einziges ist mehr verglast.
Das Glas ist herausgebrochen, herausgesplittert, liegt in Scherben im Inneren des Hauses.
Eine Straße zwischen zwei kleinen Dörfern führt direkt daran vorbei, sie ist nicht stark befahren, aber wenn einmal ein Auto vorbeikommt, dann in einem Tempo, bei dem man vom Auto aus kaum wahnimnt, dass es dieses Gebäude überhaupt gibt, ob der Hof nun noch bewohnt ist oder nicht.
Hätte mir nicht jemand davon erzählt, ich wüsste nichts davon: Man kommt eben hier nicht einfach so vorbei.
So aber mache ich mich mit einer ungefähren Ahnung, wo das ist, auf den Weg in den Nachbarlandkreis, fahre prompt das erste Mal daran vorbei, muss wenden, als ich denke, das könne es sein und erkenne langsamer fahrend auf dem Rückweg, dass ich hier richtig bin.
Ungewöhnlich für diesen Lost Place ist: Er ist weder eingezäunt noch verbrettert, weder Bauzaun noch Schilder verbieten oder verhindern den Zutritt.
Und schon sind wir nicht mehr ganz bei der Wahrheit, denn ein kaum erkennbares Holzschildchen an der sperrangelweit aufstehenden Haustür, das vor dem Hunde warnt, der wohl Bärri geheißen haben mag, untersagt den Zutritt.
Nun gibt es hier weder Hund noch Herrchen. Hier gibt es überhaupt niemanden.
Was wohl geschehen ist?
Meine Spekulation ist wie so oft in diesen Fällen, dass die alten Bauersleut gestorben sind, die nächste Generation (wenn es denn eine gab), den Hof nicht übernehmen wollte und die Erben sich uneinig sind, was damit letzten Endes passieren soll.

Eine weitere Spekulation ist, dass das Haus zeitweilig noch von anderen Menschen bewohnt wurde, ob nun als Mieter oder besetzt, lässt sich nicht erkennen. Und irgendwann waren die dann auch weg, haben aber jede Menge Müll auf dem Speicher hinterlassen.

Im Scherbenhaus

Nicht allein das Bärchen ist es, dass ich im Dämmerlicht auf dem Speicherboden finde, dass mich mutmaßen lässt, dass zwischenzeitlich hier eine Familie mit Kindern gelebt hat. Irgendwo erkenne ich im Müll einen alten Schulranzen, zu weit weg, um ihn zu fotografieren, dahin steigen möchte ich aber nicht.

Denn so ganz traue ich dem alten Gemäuer und vor allem dem Boden aus Holzdielen nicht und das letzte, was ich brauche, ist hier durchzubrechen.

Die unteren Etagen sind erstaunlich aufgeräumt, will sagen leergeräumt und nicht vermüllt, wie so oft bei Lost Places. An den Wänden befinden sich einige der üblichen Graffitis, schnell Hingesprühtes…

Im Scherbenhaus

dazu aber auch filigran Gemaltes.
Dosen, leere Flaschen, Kronkorken, Kippen? Fehlanzeige. Ein Lost Place, in dem wohl keine Parties stattfinden, niemand zum Abhängen hierhin kommt. Das irritiert mich, aber vielleicht ist der Hof doch viel zu weit ab vom Schuss, dass es sich für die Landjugend lohnen würde, sich dort zu treffen.

Langsam und vor allem vorsichtig taste ich mich durch die Räume, die Steintreppe hinauf in den ersten Stock des Wohnhauses.
Unten die Küche, das Bad, die Stube, ein weiter, breiter Flur, von dem alles abgeht, ein Durchgang zum Stall, der im gleichen Gebäude untergebracht ist.
Oben wieder ein breiter Flur, Kammern (wohl Schlafräume) und ein Überhang in die Tenne, über der Tür zum Hof ein kleiner Balkon, den ich ebenfalls nicht betrete. Zum Einen ist er übersäht mit Scherben, zum anderen traue ich auch dem nicht über den Weg. Will sagen: Eine Talfahrt mitsamt Balkon, wie sie möglicherweise passieren kann, möchte ich mir ersparen. Eines von vielen, sehr bauähnlichen Bauernhäusern in Bayern.
Es gibt ein weiteres Gebäude, einen Stall, der im rechten Winkel zum Haupthaus errichtet wurde.
Auch er (wie sollte es anders sein?) wird nicht mehr benutzt und ist dem Verfall preis gegeben.
Es ist nicht der einzige Bauernhof Lost Place in der Region, hier, hier und hier habe ich bereits welche vorgestellt. Es wäre nicht weiter schwierig, mindestens ein Dutzend weiterer Höfe und Wohnhäuser abzuklappern. In der Nähe des Flughafens finden sich jede Menge, doch sind die alle von Bauzäunen umgeben.

Im Scherbenhaus

Dort offenbar bereitet man sich heimlich, still und leise auf die dritte Startbahn vor, von der die Bürger der Stadt München einst entschieden hatten, sie nicht zu wollen. Denn die Stadt hatte als Anteilseigner seine Bürger befragt, der Freistaat, ebenfalls Anteilseigner, allerdings nicht.
Und jetzt, oh Wunder, oh Wunder! stehen auf einmal genau da, wo der Flughafen die dritte Bahn so gerne hätte, immer mehr Häuser leer. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.

Dieser Hof jedoch gehört nicht zur Beute des Flughafens, er ist wohl eher die Beute der Unentschlossenheit des oder der Erben – denn irgendwem wird er ja wohl samt Grund, auf dem er steht, gehören.

Stall

Stall

Balkon - Scherbenhaus

Während ich durch das Gebäude streife, immer sehr konzentriert, denn mittlerweile habe ich auch angebrochene Bodendielen entdeckt, und mich umschaue, denke ich darüber nach, dass ich vor noch nicht allzu langer Zeit mehrere Dinge für dieses Blog wie auch für mich klar gestellt hatte. Und an nichts, einfach nichts davon, was ich kategorisch ausgeschlossen hatte, habe ich mich gehalten.

Das hier ist kein Fotoblog – hatte ich gesagt. Das sehe ich zwar noch immer so, dazu sind die Texte der Beiträge viel zu umfangreich, aber Fotografie hat hier mächtig Raum gewonnen. Allein JedeWocheEinFoto, Münchner Buidl und Bankerl zum Verweilen sorgen für regelmäßige Blogbeiträge, in denen es fast nur ums Fotos geht. Dazu die Spaziergänge, Schwimmausflüge, Ausflüge in die Region, die emsig bebildert hier zum Thema wurden.

Das hier ist kein Reiseblog – hatte ich mir immer gesagt. Irgendwie ist das obsolet, wenn hier aus einer Bosnien-Rundreise eine auf 26 Teile angelegter Serie gerade ausgerollt wird (und das ist nicht die einzige Reise, die hier zum Mehrteiler wurde).

Das Thema Lost Place interessiert mich eigentlich gar nicht. Pah: Auch das eine Lüge: Sägewerk, Hotel, Bunker, Bobbahn, Friedhof, Waldhütte, Bauernhäuser… What’s next?

Ich kann nur hoffen, dass die Stammleserinnen und -leser diesen Weg mitgehen und mir gleichzeitig wünschen, dass das Thema Lost Places doch ein paar neue Leute herlockt, die dann hier ein wenig herumstöbern…

Im Scherbenhaus

Im Scherbenhaus

Im Scherbenhaus

Im Scherbenhaus

..so wie ich das in dem Scherbenhaus getan habe.

Einige wesentliche Unterschiede gibt es allerdings, ein Blog ist ja nun kein Lost Place (zumindest sollte es das nicht sein): Der Zugang ist offen und jeder ist willkommen. Jeder kann, soll und darf hier hemmungslos herumstöbern, überall klicken, sich alles anschauen. Es gibt weder Absperrungen noch „Betreten verboten“ Schilder, nichts ist verbrettert, nichts ist verschlossen.

Besucher sind ausdrücklich erwünscht und herzlich willkommen.


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8 Antworten

  1. Kurt Schaller sagt:

    Hallo Lutz!
    Ich mag deine Lost Places Serie und die Beschreibungen sehr. Auch die Bilder führen immer wieder zum Nachdenken, Fantasieren, Miterleben. Ich bin sehr dafür, dass du das in diese Richtung weiter machst, ich kann irgendwie bei diesen kleinen abendteuerhaften Erlebnissen richtig mit fiebern und spüre das Knistern im Stroh und das Knirschen der Scherben.
    Deine Bosnien Schilderungen waren übrigens auch allererste Sahne.
    Mach bitte weiter so ich freue mich über jeden Beitrag.
    LG Kurt

    • Lutz Prauser sagt:

      Lieber Kurt,

      Vielen lieben Dank für Dein Feedback. Es tut immer gut zu wissen, dass es „da draußen“ Leute gibt, die interessiert, was ich hier so treibe. Und noch besser: Dass Sie Bilder und Texte mögen.
      Liebe Grüße Lutz

  2. Hallo Lutz, toller Beitrag, immer noch toller Blog. Ist der Autor eigentlich mittlerweile auch im Blauen Himmel angekommen. Ich hole meine Links immer noch, aber immer ungerner aus Twitter. Wäre schön, dich auch im blauen Himmel zu treffen. Übrigens: das Chiemgau Gymnasium in Traunstein hatte die Lost Places als P-Seminar des letzten Abijahrgangs. Dabei ist auch eine tolle Dokumentation entstanden. Schon interessant, welchen Eindruck verlassene Gebäude auf Alt und Jung ausüben. Der Film dazu ist unbedingt sehenswert: https://www.chg-traunstein.de/de/faecher/lostplaces.php Beste Grüße Markus

    • Lutz Prauser sagt:

      Danke für den Hinweis, lieber Markus. Den Film werde ich mir mal mit Muße ansehen. Das klingt spannend.
      Ja, ich halte das genauso. Noch breche ich Twitter nicht ab, bin aber auch im blauen Himmel. Ich will erst wissen, ob sich das etabliert und Fahrt aufnimmt. Und mein Twitter-Ärger ist noch nicht groß genug, dort kategorisch zu verschwinden. Aber oft bin ich dort nicht mehr.

  3. Manni sagt:

    sehr schöner Lost Place und ich gratuliere dazu !!

  4. Ich will dir zeigen, dass ich sehr konzentriert alles gelesen habe – und dir die Überschreitung deiner selbst aufgestellten Regeln „verzeihe“ – aber diesen Tippfehler muss ich in meine Sammlung aufnehmen: „Stammlerinnen und -leser“