34 wird gestrichen
Herr Wu lächelt.
Ich weiß nicht, ob dieses fast maskenhafte Lächeln Folge seiner asiatischen Herkunft ist oder ob es ein Zeichen gepflegter Gastlichkeit sein soll. Denn der Besitzer des Chinarestaurants weiß natürlich, dass Gäste, die sich wohl fühlen, wiederkommen. Also lächelt Herr Wu, von dem in diesem Blog bereits die Rede war, sie stets gleichbleibend freundlich an, egal, ob sie zum ersten Mal zu ihm kommen oder ob es sich um Stammgäste seit Jahren handelt.
Also lächelt Herr Wu… und lächelt.
Das macht er auch, als er mit den bereits bestellten Getränken zu Harald und Renate an den Tisch kommt, um die Essensbestellung aufzunehmen. Harald hat bereits die Speisekarte zugeklappt, Renate noch nicht. Also wendet sich Herr Wu zunächst ihm zu. Er versteht das als Zeichen der Höflichkeit, der Dame noch einen Moment zur Überlegung zu gönnen, und macht das nicht etwa, weil ihm der Grundsatz Ladies first fremd ist.
„Ich nehme bitte einmal 34“, antwortet Harald auf die Frage, was ihm denn Herr Wu gerne bringen dürfe.
Das aber behagt Renate nicht. Sie will nicht, dass er in Rätseln redet und blättert in der Karte. Denn sie muss natürlich wissen, welches Gericht sich hinter der 34 verbirgt.
„Ah, einmal Rindfleisch mit Bambussprossen“, nickt Herr Wu und lächelt.
Noch bevor Harald jedoch bestätigen kann, grätscht ihm Renate verbal dazwischen.
„Wieso das denn?“ braust sie auf. Die Gäste an den Nebentischen im Chinarestaurant schauen kurz auf. Ich spitze meine Ohren. Was sich direkt am Tisch nebenan abspielen wird, scheint der Endkampf zu sein…
Harald ist verunsichert.
„Immer isst du Rindfleisch mit Bambussprossen, das muss Dir doch langsam aus den Ohren raus kommen“, kritisiert sie ihn lautstark.
„Warum nicht? Ich mag es halt“, rechtfertigt sich Harald, schon jetzt wissend, dass er wieder einmal am Ende die Diskussion und damit das Recht auf Selbstbestimmung auf Speisenauswahl verloren haben wird. Warum gibt er nicht gleich auf?
„Erstens könntest Du auch mal was anderes essen, denn Du weißt ja gar nicht, was es sonst noch so gibt, und wie das schmeckt…“ serviert Renate ihn ab. „Aber nein, aber nein…“
Ihre Stimme wird schnippisch. „Was der Bauer nicht kennt, das frisst er eben nicht!“
Das sitzt. Aber Renate legt nach, obwohl Haralds Widerstand längst gebrochen ist: „Außerdem hatten wir ausgemacht, dass wir zwei Gerichte bestellen und uns diese dann teilen. Und ich mag Rindfleisch mit Bambussprossen nun mal nicht. Das schmeckt doch sowieso nur nach Glutamat!“
Jetzt müsste eigentlich Herrn Wu, der Zeuge dieses Auftritts ist, das Lächeln aus dem Gesicht fallen. Das tut es aber nicht. Er bleibt standhaft. Dafür bewundere ich ihn.
„Also…“, bestimmt Renate und wendet sich an Herrn Wu. „Wir nehmen einmal Bami Goreng. Und danach Schweinefleisch süß-sauer.“
Herr Wu nickt.
„Einmal 16 und einmal 43“, bestätigt er, was nun wiederum Renate in die Pflicht nimmt, anhand der Speisekarte zu überprüfen, ob die von Herrn Wu genannten Zahlen auch mit ihren Bestellungen übereinstimmen.
Herr Wu, dem das nicht verborgen bleibt, lächelt und fragt: „Ist ok, wenn ich 16 erst bring? Und dann 43?“
Renate nickt schließlich, um zu bestätigen, dass er ihre Bestellung richtig in die Nummerierung der Gerichte übertragen hat und nicht beide Essen gleichzeitig serviert. So können sie erst das eine und dann das andere Gericht verputzen. Ihr Plan geht auf. Aber Herr Wu, der doch eigentlich alles notiert hat, macht keine Anstalten, sich vom Tisch zu entfernen.
Renate starrt ihn an. Schüchtern fragt er, was denn nun mit der 34 sei.
„Das brauchen Sie nicht zu bringen!“ antwortet Renate resolut.
„Bitte bringen Sie mir vorab diese leckeren kleinen Frühlingsrollen“, wirft Harald ein, wahrscheinlich um auf dem Schlachtfeld der Selbstbestimmung der Essensauswahl wenigstens ein paar Zentimeter Boden für sich zu gewinnen. Ist das ein letztes Aufbäumen der schwindenden Selbstachtung, bevor sie vollständig erloschen ist? Betreten starre ich auf die sechs Frühlingsrollen, die vor mir auf dem Teller liegen. Und ich bin dankbar, essen zu dürfen, was ich will und es mit niemandem teilen zu müssen.
„Ach Harald“, seufzt Renate in betont mütterlichem Tonfall. „Lass das doch lieber! Am Ende ist es wieder zu viel, Du schaffst Deine Portion nicht und wir müssen wieder was zurückgeben lassen. Das kostet doch alles unser sauer verdientes Geld.“
Harald zuckt mit den Schultern.
„Mir können Sie bitte Stäbchen bringen“, bittet Harald Herrn Wu.
„Muss das denn nun auch wieder sein?“ fragt Renate. „Du kommst damit doch sowieso nicht zurecht und am Ende dauert das Essen wieder Stunden und alles wird kalt.“
Herr Wu schweigt.
„Vom Reis, der dann kreuz und quer auf dem Tischtuch verstreut liegt, brauchen wir erst gar nicht zu reden.“
Renates Todesstoß ist treffsicher ausgeführt. Nun schweigt auch Harald. Er kapituliert auf ganzer Linie. Wieder einmal.
Herr Wu lächelt. Was bleibt ihm anderes übrig?
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Großartig! Perfekt zusammengefasst! Gilt übrigens leider auch oftmals für Mamis und ihre Kinder…