Als Tourist daheim (#20): Ein Hauch von Winter am Ostersee

Eigentlich ist es jedes Jahr das Gleiche: Kaum fällt der erste Schnee, der auch wenigstens für kurze Zeit liegen bleibt, sind sie alle aus dem Häuschen.  Autofahrer:innen erwarten das Schlimmste, Räumdienste pökeln die Autobahn, Kinder kratzen alles zusammen zu Schneebällen und -figuren, Hunde drehen frei. Soziale Netzwerke wie WhatsApp-Status (ja, der Plural von Status ist Status wegen der U-Deklination, sollte man mit Latinum in der Tasche wissen) werden mit Schneebildern geflutet und ich finde das schön – eine fast kindliche Freude und Begeisterung macht sich breit, diebis hinauf zu Boomern und alten weißen Männern wie Frauen reicht. Und wenn dann der Schnee über Nacht fällt und der Folgetag verspricht, kalt, wolkig und vielleicht sogar ein wenig sonnig zu werden, schließe ich mich dieser Kolossalbegeisterung an. Jetzt bloß nicht den Rechner hochfahren und in die Tasten hämmern, jetzt bloß nicht die Schwimmtasche ins Auto werfen und zum Hallenbad aufbrechen.
Statt dessen schnappe ich mir die Kamera und fahre los. Wie im Vorjahr mich der Wintereinbruch an den Walchensee führte, möchte ich auch dieses Jahr den ersten Schnee  des Jahres an einem See genießen: Nur dieses Jahre eben mit blauem Himmel, Schäfchenwolken, See, braunem Schilf, dunklen Bäume… es könnte alles so schön sein. So „kitschig“, so bilderbuchbayernartig.
Um das zu gewährleisten, wähle ich den Fohn-See und den Ostersee bei Iffeldorf, davon verspreche ich mir enorm viel und spare mir zugleich die Gurkerei weit hinein in die Berge. Denn das Zeitfenster ist begrenzt, am frühen Nachmittag sollen schon wieder Wolken aufziehen, dann ist es Essig mit dem freien Blick auf den Himmel der Bayern.

Überwältigens erwartet mich schon am Park- und Badeplatz am Fohn-See: Ein Blau, das lässt sich mit gar nichts anderem vergleichen.

Ikonisch der kahle tote Baum am See, das muss jetzt sein.
Fotografieren wird einigermaßen schwierig, weil es bedeutet, die Sonnenbrille abzusetzen, die Handschuhe auszuziehen, den Objektivdeckel abzunehmen, alles in der dritten oder vierten Hand zu halten, während die Ursprungshände die Kamera vors Auge halten und am Zoomobjektiv herumdrehen. Da es aber keine dritte oder vierte Hand gibt,  die Jackentaschen voll mit Kram, das Geraffel nicht irgendwo abgelegt werden kann, landet mal das eine, mal das andere unbeabsichtigt im Schnee.

Der Weg führt mich am Fohn-See entlang, am Campingplatz auf der einen und mehreren kleinen Seen auf der anderen Seite nach Norden. Schilder, die ich geflissentlich ignoriere, weisen darauf hin, dass der Zugang/Durchgang über den Seitenweg zu den anderen kleinen Seen verboten bzw. den Mitgliedern irgendwelcher Vereine vorbehalten ist. Soweit kommt’s noch. Betretungsverbote aus Naturschutzgründen lasse ich mir ja gern eingehen, aber der Durchgangsvorbehalt nur für irgendwelche Angler? Ok: Ich angle nach Bildmotiven:

Einmal mehr fällt die Sonnenbrille in den weichen Schnee, was sie für eine gewisse Zeit unbenutzbar macht, mit der Mütze auf dem Kopf kann ich sie nicht einfach münchnerisch elegant ins Haar stecken, ohne Etui auch nicht in die Jackentasche stopfen, also landet sie nass wie sie ist, wieder auf der Nase. Das schränkt das Gesichtsfeld ein wenig ein. Egal.

Irgendwann landet auch der Objektivdeckel im Schnee, das bleibt zunächst unbemerkt, weil ich die Kamera sowieso immer wieder im Anschlag habe und ich den Deckel sicher in einer der Jacken- oder Hosentaschen verstaut wähne. Aber das ist ein Irrtum.
Es ist verschmerzbar, denn natürlich bleibt er verlüstig, aber ich habe daheim gleich mehrere, es ist ja nicht das erste Mal, dass das passiert.
Allerdings bedeutet es ein Ding der Unmöglichkeit, jetzt das Objektiv vollkommen schneefrei zu halten, jeder Windstoß weht Schnee von den Bäumen – wunderschön anzusehen, wie der feine Kristallstaub glitzernd durch die Luft wirbelt. Aber eben auch blöd, weil ich schon jetzt weiß, dass ich später auf den Bildern entsprechende kleine Flecken haben werde.

Davon sich die Laune verderben zu lassen, wäre vollkommen töricht.  Und so setze ich erst den verbotenen, dann wieder den vollkommen legalen Weg Richtung Ostersee fort und fotografiere wie ein Irrer.

Am Ostersee treffe ich auf ein paar Spaziergänger:innen, zwei Jogger:innen und zwei Paare mit Hund. Mehr nicht. Ich mag mir gar nicht ausmalen, welche Völkerscharen zeitgleich am Tegernsee oder Starnberger See entlang flanieren.
Mein Weg führt mich vom südlichen Badeplatz zum nördlichen. Es ist ein unglaubliches Spiel von Licht und Schatten, von Hell und Dunkel, die Sonne lässt alles glänzen, wo ihre Strahlen hinkommen. Aber sie steht tief, die hohen Fichten am Ufer werfen auch mittags noch lange Schatten.

Ich stapfe durch den Schnee durch den Wald. Immer wieder fährt ein scharfer, kalter Wind in die Wipfel, immer wieder rieselt Schnee herab. Schützend umfasse ich das Objektiv, viel wird es nicht nützen, aber ein wenig vielleicht doch. Was soll’s?
Puristen beschimpfen mich sowieso wieder wegen der Schmutzflecken im Bild.

Am See bemühe ich mich um abwechslungsreiche Motive wie Bildgestaltung. Ein See ist schließlich nicht nur ein See, ein See, ein See…
Besonders angetan hat es mir ein Baum am gegenüberliegenden Ufer, den ich heranzoome. Sollte ich mal ein Winterwonderland-Foto irgendwo abliefern sollen oder wollen, ich würde so eines nehmen.


Was ich bereits im Wald erlebt habe, wird bei freiem Blick über den See ein ganz besonders schönes Schauspiel, dass sich kaum in Bilder bringen lässt. Immer wieder weht der Wind etwas Schnee von den Bäumen, wie feine weiße Nebel- oder Dunstwolken zieht er dann über den glitzernden Ostersee.
Wenn es so etwas gibt, wie das Gefühl, die Zeit solle jetzt einfach mal stehen bleiben, dann ist das so ein Moment. Vielleicht liegt das auch daran, dass mir Rammstein gerade erst Zeit samt faustischer Anspielung ins Ohr gesäuselt hat:
So perfekt ist der MomentDoch weiter läuft die ZeitAugenblick, verweile dochIch bin noch nicht bereit

Ein wenig unangenehm ist mir das ja schon, einfach so in der Gegend herumzulaufen. Aber nur ein wenig… – so kommentiert befülle ich später die sozialen Medien mit einem Handyfoto, das ich zum Sofortgebrauch gemacht hatte. Und ich schreibe Freund Jens an. Der wohnt im Münsterland, wie kennen uns seit (seinen) Kindertagen, stammen aus der gleichen Stadt, sind irgendwie Soulmates mit ähnlich ausdifferenziertem Geschmack, von erfrischend westfälischer Direktheit und gleichem bisweilen grenzwertigen Humor. Mit seiner Familie war Jans öfters in der Region in Urlaub und immer waren alle schwer angetan vom alpenländischen Setting.
„Kannst Du mal eben ganz stark sein?“ frage ich ihn via WhatsApp und er antwortet: „Ich versuch‘s“
Ich reiche ihm ein Handyfoto rüber, das diesem sehr ähnlich ist:

„Puuuuuh. Das schmerzt vor Schönheit!“ antwortet er.
Wo er recht hat, da hat er recht.

Zeit, bitte bleib stehen, bleib stehenZeit, das soll immer so weitergehenZeit, es ist so schön, so schönEin jeder kennt den perfekten Moment


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4 Antworten

  1. Nati sagt:

    Dieser Ausflug, mit nur zwei Händen, hat sich in jedem Fall gelohnt.

  2. Trude sagt:

    wunderschöne Bilder – vielen Dank dafür

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