Wie am Haken

Wie am Haken?

Straßenmusiker in Strasbourg. Am HakenTöne einer bekannten Melodie einer Filmmusik wehen bei unserem Ausflug nach und Spaziergang durch Strasbourg durch die Grand Rue, hinreißend gespielt auf einem Akkordeon, einem Instrument, das ich eine Weile sehr verachtet habe. In meinen Augen (und Ohren) wurde das Akkordeon, einst Folterinstrument meiner Pubertät, erst durch Dennis DeYoung rehabilitiert, dem amerikanischen Musiker, der als Mitglied der Rockgruppe Styx hinreißend Akkordeon in Boat on the river spielte, was dem Song etwas Fließendes, Leichtes gab, einen leichten französischen Unterstrich in diese Rock Ballade gab. Übrigens ist Boat on the river der literarischen Gattung nach gar keine Ballade, aber Musikjournalisten  machten alles, was langsam gespielt wird, große Gefühle ausdrücken und wecken soll, egal, ob nun eine Geschichte erzählt wird oder nicht. Plötzlich tauchte das Akkordeon in einer für mich auch relevanten Musik auf und leitete meine Versöhnung mit dem Instrument ein; was mal einen eigenen Blogtext wert wäre.

Je weiter wir die Grand Rue Richtung Kathedrale entlang flanieren und uns dem Akkordeonspieler nähern, je deutlicher ist seine Musik zu hören. Und der Mann spielt wirklich gut. Mittlerweile bringt er die Titelmelodie He’s a Pirate aus Pirates of the Caribbien zu Gehör. Er sitzt in einem Hauseingang eines etwas heruntergekommenen Gebäudes, in dem gerade gearbeitet wird. Sein Akkordeon ist alt, die Tastatur fleckig vergilbt wie die Zähne eines Kettenrauchers.

Einen Moment bleibe ich am gegenüberliegenden Straßenrand stehen und lausche diesem Klassiker der Filmmusik. Mehr Publikum hat er nicht, aber wenigstens  einer bleibt stehen, hört zu und schaut, wie die Finger der einen über die Tastatur,  die der anderen über die Bass- und Akkordknöpfe sausen. Jeder Druck ein Treffer, jeder Ton sitzt.
Straßenmusiker zu sein ist bestimmt ein mühseliger Job. Wenig Publikum, oft komplett ignoriert von den Passanten, jedes Stück ein erneutes Ringen um ein paar Minuten Aufmerksamkeit und Zuhörerschaft – von den finanziellen Dimensionen einmal abgesehen, auch von Jahreszeiten- und Wetterabhängigkeiten. Dazu das Gemecker der Geschäftsinhaber, vor deren Tür eine/r sich aufstellt, und permanent von Polizei und Ordnungsamtsmitarbeitern kontrolliert, ob man das, was man dort im öffentlichen Raum tut, auch wirklich tun darf (zumindest in München in der Fußgängerzone ist das so). Wehe, da hockt sich einer einfach mal so hin und macht Musik.

Nachdem die letzten Piratenmusik-Klänge verklungen sind und wir uns bereits zum Gehen gewendet haben, erklingt in meinem Rücken eine Melodie zu der Textzeile Una mattina / Mi son svegliato /O bella ciao, bella ciao, bella ciao, ciao, ciao… Nicht gesungen, nur gespielt.

Damit hat mich der Musiker sofort wie ein Angler den Fisch am Haken. Meine Frau grinst, ich grinse, wir wissen beide: Jede/r Straßenmusiker:in, die Bella Ciao spielt, bekommt von mir Geld in den Hut, in diesem Fall eine kleine Blechdose. „Woher hat er das gewusst? Das kann doch kein Zufall sein, der hat doch meinen Blogtext gelesen, der kennt mich doch…“
Das ist vollkommener Quatsch, aber aus einem Repertoire von – keine Ahnung – hunderten Stücken genau dieses jetzt zu spielen um mich am weitergehen zu hindern, sowas kann doch kein Zufall sein.
Doch! Das ist es ganz sicher!

Ich finde, dieses antifaschistische Kampflied der italienischen Partisanen kann nicht oft genug öffentlich zu Gehör gebracht werden, auch oder gerade als politisches Statement gegen rechts. Natürlich kann ich nicht nicht sicher sein, ob die jeweiligen Interpret:innen in den Fußgängerzonen, auf Plätzen oder in Parks das Lied absichtsvoll aus politischen Gründen spielen oder einfach nur wegen ihrer Bekanntheit und Beliebtheit und vielleicht noch wegen vorbeilaufender italienischer Touris. Das ist mir aber auch egal. Die Botschaft des Songs zählt, weniger die der Musiker:innen – ob nun bewusst gespielt oder nicht.
Straßenmusiker in Strasbourg. Ich hänge an seiner Kunst, wie am HakenMich jedenfalls hat der Spieler am Haken; wie ein guter Angler mit dem richtigen Köder einen Fisch. Zwei Strophen spielt der Mann, ich stehe noch immer, längst das Portemonaie in der Hand und die Münzen daraus zusammengeklaubt, dann gibt er plötzlich Schnur. In diesen Fall heißt das: Er wechselt in eine wilde freie und doch sehr melodische Improvisation des Themas. Das hat mit

Bella Ciao wenig zu tun, aber noch ist der Song irgendwie erkennbar. Für Straßenmusik ist das vielleicht nicht so klug, er ist darauf angewiesen, dass Passant:innen sofort erkennen, was sie hören, es mögen, stehenbleiben und etwas Geld spenden. Er macht es trotzdem und riskiert damit, dass niemand stehenbleibt und der, der zuhört, auch noch geht. Aber er weiß längst, dass er von mir etwas bekommen wird. Sehr geschickt beobachtet er mich, ohne dass ich das Gefühl habe, dass er mich direkt in den Blick genommen hat. Als Profi weiß er, das ist zumindest meine Vermutung, dass längeres In-Blick-Nehmen von Zuhörer:innen eher die Spendenbereitschaft senkt statt sie zu heben. Vielleicht wird so etwas ja als deutliche Erwartungshaltung verstanden, endlich was rauszurücken und vermittelt das Gefühl, dem komme man nicht mehr aus, es sei denn, an gehe sofort?

Tatsächlich überlege ich während der Improvisationen: „Kommt noch mehr, kann ich jetzt  gehen? Wechselt er ohne Unterbrechung in ein anderes Stück? Lohnt sich weiteres Zuhören?“
Wie ein Fisch an der Angel ist es plötzlich das Gefühl, doch nicht „gefangen“ worden zu sein, einfach weiterziehen zu können. Bella Ciao is over. Lass uns gehen. Das ist mitnichten so.
Der Akkordeonspieler beobachtet sehr genau, wie sein Zuhörer reagiert, denn kaum wollen wir wirklich los, jagt er wieder glasklar erkennbar das alte Lied durch den Blasebalg. Er holt mich näher und näher., so ist das halt am Haken. Das Portemonnaie ist längst wieder verstaut, das Geld in meiner Hand. Ich zahle meinen Obolus, den ich ja öffentlich jedem versprochen habe, der mir Bella Ciao auf der Straße wo auch immer spielt. Damit kaufe ich  mich frei vom Haken.
Wir können weiter. Der Mann bedankt sich, als die Münzen in seine kleine Blechdose klimpern. Mit einem anderen Musikstück lässt er mich weitergehen. Ich wende mich noch einmal um. Er lacht, auch als er sieht, dass ich die Kamera auf ihn richte. Ich werte das als Einverständniserklärung, dass ich ein Bild machen darf.

Es sind diese kleinen Augenblicke, die mir so immens wertvoll sind: Anhalten, stehen bleiben, hinschauen, zuhören, Musik erfahren, Gedanken galoppieren lassen.
Darum erzähle ich davon.

 


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