Die Stalag Gedenkstätten in Moosburg (Teil #03): Die Aura des Ortes

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Die Stalag Gedenkstätten in Moosburg das erste Mal vor Ort (Teil #01)
Die Stalag Gedenkstätten in Moosburg eine ausgiebige Führung (Teil #02)

Fotos in der Ausstellung

Gerade erst hat die vom Langenscheidt Verlag initiierte Abstimmung zum Jugendwort des Jahres 2024 ihr Ende gefunden und das Wort Aura wurde als solches gekürt. Damit ist der Begriff, dessen Bedeutung Walter Benjamin 1935 für ein Phänomen in Kunst und Kultur festschrieb, zur Phrase und Worthülse kompromittiert.
Davon unbeschadet, lohnt es, darüber nachzudenken, ob die Aura auch eine historische Erfahrungsform oder Geschichtserfahrung in Benjamins Sinne sein kann. Stefan Ederer hat darüber in seiner Philosophie-Diplomarbeit Aura, Erfahrung, Geschichte sinniert.
Sehr verkürzt und vereinfacht geht es um Erfahrungen, die einer machen kann, wenn er sich an besonders geschichtsträchtigen Orten befindet. In den Geschichtswissenschaften wird immer wieder darüber diskutiert, ob es das Auratische eines Ortes überhaupt gibt, und wenn, wie es dann mit deren Verbindung zur Authentizität des Ortes steht. Eine sehr akademische Diskussion, die sich gefallen lassen muss, dass mit Aura und Authentizität eine Echtheit von historischen Orten behauptet wird, die fast nirgendwo so erhalten ist, ja, auch mit einer gewissen Sakralisierung dieser Orte einher geht.

Ein erstes Mal diskutiere ich mit Freunden darüber, als wir im Januar 2024 in Moosburg einen Sonntag lang auf den Spuren des dortigen Kriegsgefangenenlagers Stalag an den unterschiedlichen Gedenkstätten gefolgt sind und unweigerlich die Frage aufkommt, ob solche Gedenkorte nur ihre Aura entfalten, also „funktionieren“, wenn sie bestmöglich historisch erhalten bleiben, bzw. ihre Bauwerke am Ort bleiben und nicht umgesetzt werden.
Konkrete Anlässe sind eine vollkommen ruinöse alte Häftlingsbaracke, bei der niemand wirklich weiß, wie es damit weitergehen soll sowie der Wunsch der Moosburger Mittelschule, einen dringend notwendigen Erweiterungsbau für eine Schulmensa zu errichten und dafür eine der Baracken der Wachmannschaften abzureißen. Das wird in der Kommune intensiv diskutiert – und damit auch die Frage der Erinnerungskultur. Dass an diesen Orten erinnert werden soll, steht außer Frage, aber den einen reicht eine Informationstafel, weil es Platz für den Neubau schafft, die anderen wollen die Gebäude erhalten, weil nur am authentischen Ort so etwas wie Aura funktioniert.
Wie auch immer die Gemeinde sich eines Tages entscheiden wird, und das wird sie müssen: Einen Verlierer wird es in jedem Fall geben.

Das ist eine lange Vorrede, nur um mich herauszuwinden, dass ich immer noch nicht wieder in Moosburg an den Gedenkstätten war, um mittlerweile aufgeladen mit jeder Menge Informationen über das Stalag nach der Aura des Ortes zu suchen, also der ganz besonderen Wirkung, die er auf mich haben könnte. Obwohl ich mir das fest vorgenommen habe, ergab es sich einfach noch nicht, vielleicht auch muss man in einer besonderen Stimmung und damit Empfänglichkeit sein, vielleicht werde ich das erleben, vielleicht wird es aber auch nicht „funktionieren“?
Einmal mehr aber werde ich mit dem Auratischen in der Erinnerungskultur konfrontiert, als ich in Moosburg die Eröffnung des Projekts Dreihunterteins in den Räumen der VHS besuche. Und wieder steht es in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Stalag: Am 19.10.1939 trafen in Moosburg die ersten Kriegsgefangenen ein, 85 Jahre später, am 19.10.2024 lädt die Journalistin, Autorin, Fotografin. Kunsthistorikerin und Künsterlin Christine Fößmeier zu einer Spurensuche der besonderen Art ein. Sie hat sich mit Nadine Sukniak, der VHS-Fachbereichsleiterin Gesellschaft, Kultur nach Polen begegeben. Für Christine Fößmeier ist das Stalag VII A in Moosburg ihrem eigenen Bekunden nach ein Lebensthema. Vehement plädiert sie mit ihren Aktivitäten und ihrer Arbeit für den Erhalt der noch existierenden Zeitzeugnisse in der Stadt.

Texttafel - Aura in der Erinnerungskultur

Die beiden Frauen folgten dort den Spuren von 301 polnischen, jüdischen Kriegsgefangenen, die im Stalag waren, von dort nach Lublin in ein Arbeitslager deportiert wurden und im November 1943 erschossen wurden. Nur einer überlebte, weil er sich als Tischler ausgab, als arbeitsfähig und nützlich eingestuft wurde und weiter im Lager bleiben konnte. Bei diesem Massenmord unter dem Tarnnamen Aktion Erntefest fanden in einer Nacht rund 43.000 jüdische Menschen den Tod, allein in Lublin und im nahen KZ Majdanek rund 17.000.
Christine Fößmeier hat diese Orte besucht. In Fotos, einer Kunstinstallation, in kurzen lyrischen und Prosatexten versucht sie, sich dem Geschehenen anzunähern, es zu erfassen und uns zu vermitteln – immer die 300 Männer, die in Moosburg waren, im Blick. An diesem Abend erzählt sie viel von der Wirkung der Orte, dort, wo sie die besondere Aura gespürt hat und dort, wo eben nicht: Im lichten Wald von Borek, wo die Toten zuerst verscharrt, dann exhumiert und verbrannt wurden. Ihre Asche wurde im Wald ausgestreut.
Es ist diese Diskrepanz, die verstörend ist – ein Ort, so friedlich, so sommerlich, so natürlich, irgendwie auch beliebig austauschbar gegen viele andere Wälder. Nur, dass eben hier ungeheuerliche Verbrechen stattfanden. So aber, als spiele das keine Rolle, wird der Wald von der Bevölkerung als das genutzt, was er nun mal ist: Ein Stück Natur, ein Erholungsgebiet. Nicht anders übrigens habe ich es im Mühldorfer Hart erlebt.
Das ist das vielleicht Schwierigste: Die eigene Erwartungshaltung an einen Erinnerungsort, wie er sich uns würdig zu präsentieren hat und die Diskrepanz zur Realität; auch die Diskrepanz, dass nicht alle die Erinnerungskultur so leben und sich an solchen Orten so verhalten wollen, wie wir das für angemessen halten. Und schon sind wir bei der Sakralisierung dieser Orte. Und das ist auch mein ureigenstes Problem.

Der Wald, so schildert sie ihre Eindrücke, ist das kaum ein Erinnerungsort. Es funktioniert ebenso wenig wie das Anbringen einer großen Plakette an einer Shopping Mall, die heute dort steht, wo einst das SS Arbeitslager in Lublin war.

Reden über die Aura der Orte

Es sind spannende Gedanken und vor allem sind es ihre aufwühlenden Gedichte und Eindrücke umrahmt von fulminanten Schlagzeugklängen von Mäx Huber, weil jede andere Art von Musik wirklich nicht passen würde, die diesen Abend sehr wertvoll werden lassen.
Der Schwerpunkt der Fotoausstellung liegt in dem, was sie erlebt und dabei empfunden hat, in Bildern auszudrücken. Es geht weniger um fotografische Dokumentation noch um eine Ästhetisierung des Grauens, was ja bei der Fotografie gerade von Gedenkstätten des Terrors schnell eine Gefahr darstellt und ebenso schnell auch in eine Banalisierung abgleitet. Es geht um die Wirkung, sie zeigt, was sie irritiert und was sie bewegt hat: Ein Frosch im Wald, Füße von vorbeilaufenden Passanten im Einkaufszentrum Lublin, auch Bilder aus Majdanek.
Manches ist es möglicherweise für die Betrachter:innen nicht ganz leicht zu verstehen und in den Kontext einzuordnen, vor allem nicht, wenn man die Bilder ohne ihren Background betrachtet. Einige Tafeln geben ihre Gedichte wieder, andere geben den historischen Hintergrund für das Projekt Dreihunderteins. Dann erschließt es sich. Einfacher war es, der Künstlerin zuzuhören.

Danke dafür.

PS für Menschen aus der Region: Die Ausstellung ist in der VHS Moosburg bis zum 03.11.2024 zu sehen und täglich von 9 bis 20 Uhr geöffnet.


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