Spaziergänge (#12): Rings um Oberndorf. Ohne blaues Band

Oberndorf müssen Sie nicht kennen. Oberndorf ist ein kleines, unbedeutendes Dörfchen nördlich der B12 im Landkreis Mühldorf östlich von München.
Kein Ort zum Hinfahren, nicht mal einer zum Durchfahren – geschweige denn, dass man es sich als Ziel aussucht, um dort spazieren zu gehen. Es gibt dort nämlich nichts, nur Gegend. Verdammt viel Gegend.
Wir fahren trotzdem dorthin, wir gehen trotzdem dort spazieren. Denn ganz in der Nähe ist der Stall, in dem das Pferd meiner Tochter steht. Und selbiges will bewegt werden, also reitet meine Tochter aus und wir „traben“ einfach auf Schusters Rappen neben- oder hinterher.

Wiesen bei Oberndorf

Schließlich zeigt das Thermometer 9 °C, ein Hauch von Frühling liegt in der Luft. Es drängt uns nach draußen in die Sonne.
Von überall her hört man, dass die Krokusse bereits in den Gärten blühen, die Bienen ausfliegen und der Schnee längst verschwunden ist.
Der Bayerische Rundfunk ist sich nicht zu schade, von Mörikes Gedicht über den Frühling zu schwadronieren. „Frühling lässt sein blaues Band…“ gibt ein Reporter Passanten in der Fußgängerzone vor und lässt die Menschen, denen er das Mikrofon vor den Mund hält, das Gedicht vervollständigen. Fast alle scheitern, bringen nur Fragmente zusammen, endlich kann es eine Frau komplett aufsagen.
„Kunststück“, denke ich. „Und vorhersehbar, dass sie ausgerechnet diesen O-Ton an das Ende des Beitrags schneiden…“

Wegkreuz bei Oberndorf

Aber Pfarrer Mörike in allen Ehren, liebe Leute: Es ist erst Februar. Träumt Ihr Euch mal den Frühling herbei. Abwarten, ob er dann auch wirklich schön kommt

Wisst Ihr nicht mehr, dass es vergangenes Jahr um diese Zeit richtig winterlich war und es Ende des Monats so richtig, richtig kalt wurde? So kalt, dass man im März noch übers Eis der Weiher laufen konnte.

Auch jetzt ist von den Schneemengen, die im Januar und noch vor zwei Wochen heruntergekommen sind, viel vorhanden. Hier zumindest, rings um Oberndorf.

Es ist och Winter - stahlblauer Himmel

Dort, wo die Sonne den ganzen Tag hinscheint, kann man den Schnee beim Tauen zuschauen. Aber nur dort.
So blühen auch bei uns im Garten in geschützten Ecken die ersten Krokusse, aber das Wetter ist trügerisch, es gaukelt einen Frühling vor, der noch fern. Wo Bäume lange Schatten werfen, ist das Land fest in der Hand des Winters. Von wegen blaues Band, von wegen süße, wohlbekannte Düfte

Sonne zwischen den Bäumen in Oberndorf

Zarte, fragile und filigrane Gebilde aus Eis zu meinen Füßen trotzen der Sonne. Als Kind war ich begeistert von diesen Eiskanten, unter denen Wasser floss, das verschwunden ist. Ich spürte einen immensen und leider auch zerstörerischen Drang in mir, sie anzufassen, abzubrechen, abzutreten. Ich weiß nicht warum. Heute beschränke ich mich darauf, sie anzuschauen, auch wenn es mir noch immer schwer fällt, nicht ihre Brüchigkeit zu testen.

Eiskruste

Im Ort scharren Hühner auf dem kleinen, bisher aufgetautem Stückchen Wiese. Teilnahmslos schauen mehrere Hähne dem Geschehen zu. Ganz klar: Auch hier ist noch lange kein Frühling: Kein Gezänk der Hähne, wer der Obermacker auf dem Hof ist, kein unaufhörliches Nachsteigen der Hennen durch die paarungswürigen Gockel.

Hühner

Noch immer bedeckt eine feste Schneedecke die Felder. Ein Langläufer zieht in der Ferne seine Bahn. Tagsüber taut es an, aber die Minustemperaturen des Nachts lassen den nassen Schnee steinhart gefrieren. Als einziges dünnes, blaues Band sind am Horizont die Alpen sichtbar. Und die flattern ganz und gar nicht.

Schnee, Himmel, ein blaues Band: Die Alpen

...und einer tritschelt immer hinterher

Wie immer „tritschelt“ der Depp mit der Kamera (also ich) hinter den anderen her, macht Bilder, sucht Blickachsen und Motive, entscheidet sich anders, verwirft die Idee, hier oder besser dort zu fotografieren, stapft durch den Schnee, rutscht auf dem Eis fast aus, weil natürlich ein Bild nicht einfach da gemacht werden kann, wo man selbst gerade steht. Für ein gutes Foto kann man schon mal ein wenig ins Gelände kriechen oder aufs Eis gehen. Man muss es ja nicht gleich übertreiben. Wussten Sie, dass mittlerweile weltweit mehr Menschen dabei zu Tode kommen, wenn sie ein Selfie machen, als Menschen, die von einem Hai gebissen wurden? Wie gut, dass ich nur die Landschaft im Visier habe…

Das Pferd meiner Tochter mag es übrigens ganz und gar nicht, wenn ich zurückbleibe. Es will, dass die Gruppe zusammenbleibt und wird unruhig.

Ich finde das klasse, ein tolles Tier. Endlich mal wer, der auf meiner Seite ist. Wir Männer müssen eben zusammenhalten.

„Ich komme ja schon – geht doch ruhig schon mal vor“, rufe ich.

„Nein. Das Pferd soll lernen, dass es auch mal warten muss!“ erhalte ich als Antwort.

Auch wieder wahr. Irgendeiner wartet schließlich immer…


Eine Liste aller Beiträge der Serie Spazieren statt schwimmen gehen samt Verlinkung finden Sie auf der Unterseite Die Serien dieser Seite im Überblick


Vielen Dank fürs Lesen.
Wenn Ihnen dieser Artikel gefallen hat, dann freue ich mich, wenn Sie ihn Ihren Freunden weiterempfehlen – z.B. über Facebook, Twitter, in Internetforen, Facebookgruppen o.ä.
Gern dürfen Sie den Artikel auch verlinken.

Diesen Beitrag weiterempfehlen:

Entdecke mehr von Mal Zwetschgenmann - Mal Wassermann

Jetzt abonnieren, um weiterzulesen und auf das gesamte Archiv zuzugreifen.

Weiterlesen