Hello in there

You know that old trees just grow stronger,
and old rivers grow wilder every day,
but old people, they just grow lonesome
waiting for someone to say,
„Hello in there. Hello“

– John Prine –

Es ist schon eine Weile her, dass ich eines Abends in München am Odeonsplatz mit der Rolltreppe aus der Tiefe des U-Bahntunnels zurück an die Oberfläche fuhr.  Das kommt öfter vor, vom Odeonplatz ist man fußläufig schnell in der Bayerischen Staatsoper, der Theatinerkirche oder im Hofgarten. Oder im Tambosi. Da treffen sich die Münchner, präsentieren sich hoffärtig edle Getränke zu überteuerten Preisen trinkend und in der Sonne sitzend ihren Mitmenschen und erfüllen damit ihre vornehmlichste Aufgabe: Sich zu zeigen. Nicht, dass sie dafür entlohnt würden. Aber sie lassen sich von den Heerscharen der Touristen ebenso beglotzen, wie sie selbst durch ihre Sonnenbrillen auf die vorbei defilierenden Massen (herab)schauen. Die Touristen suchen in der Gastmenge nach bekannten Gesichtern von Fußballer-Gschpusis und Fernsehserien-Darstellern, die Tambosianer wiederum Ansatzpunkte, sich über die unmögliche Garderobe der Gäste der Landeshauptstadt lustig zu machen – Nicht, dass sie dann lachen, aber ein klein wenig darf dabei der Mundwinkel angehoben werden. Alles andere wäre entweder uncool oder lässt die plastische Chirurgie sowieso nicht mehr zu.
Also gehören die Tambosianer ebenso zu der unbezahlten, zweibeinigen Staffage Münchens wie die Nackten im Englischen Garten, die Eisbachsurfer oder die kauzigen Stammtischbrüder im Hofbräuhaus: Lebendes Inventar, dass man beglotzen darf – aber nicht anfassen.
Nun gibt es natürlich auch das andere München, das der normalen und bisweilen sehr einfachen Leute.
Auch solche – vielleicht sogar vornehmlich solche – nutzen die U-Bahn. Und wenn nicht gerade die Staatsoper anfängt, dann steht man auch am Odeonsplatz auf der Fahrt vom U-Bahn-Untergeschoss nach oben zwischen ihnen ganz normalen Menschen auf der Rolltreppe. Wie eben an dem besagten Abend.
Vor mir steht eine alte Frau. Obwohl sie eine Stufe höher steht, während wir uns nach oben befördern lassen, reicht sie mir kaum bis zur Schulter. Sie trägt einen grauen Mantel, der auch schon deutlich bessere Tage gesehen hat – so wie sie vermutlich auch.
Irgendwie erinnert sie mich an Tante Trude, eine Freundin meiner Großmutter. Wir Kinder durften zu dieser eigentlich fremden Frau Tante Trude sagen, vielleicht mussten wir das auch – damals fragte man nicht so sehr danach. Trude stammte wie meine Oma aus Schlesien und war während des Zweiten Weltkriegs aus ihrer Heimat vertrieben worden. Während es meine Großeltern es irgendwie geschafft hatten und nach dem frühen Tod meines Großvaters meine Oma es auch allein bewerkstelligte, wieder Fuß zu fassen, blieb die Kriegswitwe Trude an der gesellschaftlichen Unterkante – was wohl auch damit zu tun hatte, dass sie jeden Pfennig eisern sparte, um ihrem Sohn Richard das Studium zu ermöglichen. Er dankte es mit einer Promotion.
Trude, die meine Oma in den ostdeutschen Heimatstuben kennengelernt hatte, bewohnte eine winzig kleine Einzimmerwohnung mit Kohleofen in einer eher hässlichen Ecke meiner Heimatstadt. Ein oder zweimal begleitete ich meine Oma zum Besuch bei ihr, die Erinnerung daran ist sehr verblasst. Aber ich sehe Tante Trude in einem alten abgeschabten Mantel, der dunkelgrün war, oder dunkelblau. Auf jeden Fall war er er nicht grau, wie der von der Frau vor mir…Es ist eng und stickig auf der Rolltreppe. Niemand lässt eine Stufe frei, man verweigert dem Nächsten den Abstand, den man selbstverständlich in anderen Situationen einhalten würde. So durchbricht man Distanzzonen, rückt aber enger zusammen. Zum Vorteil aller geht es schneller nach oben. Das reicht allerdings einigen nicht. Also steht die Masse rechts, während links die Hektiker und ständigen in Eile befindlichen Fast-Zuspätkommer im schnellen Schritt die Stufen der fahrenden Treppe hinauf eilen: Empörkömmlinge im wahrsten Wortsinn.
Als ein Mann, an mir vorbeiläuft, registriert die alte Frau wohl die Bewegung und dreht sich unsicher um. Hat sie Angst bedrängt zu werden? Umgestoßen zu werden?
Der andree Mann ist natürlich schon an ihr vorbei, noch während die Frau sich dreht.

Nun aber starrt sie mich an – einen kurzen Moment nur. Sie schaut zu mir auf, unsicher, vielleicht sogar etwas verärgert, weil ich mich direkt hinter befinde, ihr sehr nah auf die Pelle gerückt bin und zudem eine Stufe tiefer stehe und sie trotzdem um Haupteslänge überrage.
Aber ich lächle. Ich lächle sie einfach an.
Deutlich und direkt in ihr Gesicht hinein.
Einfach so. Ungefragt und rücksichtslos.
Ich versuche dabei, ein ungezwungenes und freundliches Lächeln hinzubekommen – eines, das nicht den Charme der aufgesetzen, falschen Grinserei hat, wie man es in diversen, etwas teureren Geschäften oder gastronomischen Betrieben (s.o.) entgegengeschleudert bekommt. Sie kennen sicher dieses maskenhafte Dauergrinsen, das auch Mitarbeiterinnen bestimmter Parfümerieketten bis zum Erbrechen trainiert haben, allerdings nur dann aufsetzen, wenn der sich in die Geschäfte verirrende Kunde verspricht, reichlich Umsatz dazulassen.

Ich weiß nicht, wie oft diese ältere Frau an diesem Tag bereits angelächelt wurde, und ob überhaupt. Falls aber, dann war es ganz gewiss nicht in so einem Geschäft. Sie zuckt mit dem Mundewinkel. Ganz kurz. Erwidert sie mein Lächeln?
Ich glaube nicht. Dennoch hat sie innerhalb dieses kurzen Moments von vielleicht zwei Sekunden registriert, dass ich versucht habe, sie freundlich anzusehen. Zumindest hoffe ich das.
Dann dreht sie sich wieder um.
Wir sind fast oben und sie weiß, dass sie einen schnellen Schritt von der fahrenden Treppe machen muss, wenn sie nicht hinfallen will. Schnelle Schritte sind nichts in ihrem Alter. Vielleicht mag sie deshalb nicht, dass ich direkt hinter ihr stehe. Das nimmt ihr die Zeit, die sie möglicherweise braucht, um sich von der Rolltreppe zu entfernen, ohne von mir über den Haufen gerannt zu werden.
Dabei liegt mir nichts ferner, als alte Frauen am Ende einer Rolltreppe umzurennen.

Im Gedränge ist sie bald verschwunden. Viele Menschen, alle deutlich größer als sie, kommen nach, laufen links und rechts an ihr vorbei. Weitere Menschen transportiert die Rolltreppe nach oben. Mit der Menge wird die Frau nach draußen geschwemmt. Wie auch ich…

„Hello in there“, habe ich nicht sagen können. Aber lächeln. Vielleicht hat das ja auch ausgereicht. Ich hoffe es. „Hello in there.“

So if you’re walking down the street sometime
And spot some hollow ancient eyes,
Please don’t just pass ‚em by and stare
As if you didn’t care, say, „Hello in there, hello.“

– John Prine –

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1 Antwort

  1. Danke für das Lächeln!

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