Für mehr Biss

Ein Geschäftstermin zwingt mich in die Münchner Innenstadt – ein sinnloses Unterfangen, diesen per PKW wahrzunehmen, die Verkehrs- und Parksituation ist hoffnungslos und frustrierend, also lasse ich das Auto in einem P&R Parkhaus und nutze die U-Bahn.
Die Rollltreppe wuchtet mich am Zielbahhof an der Station Fraunhoferstraße nach oben und kaum, dass ich in dem Zwischengeschoss bin, sehe ich rechts vor verfliester Wand die Biss-Verkäuferin. Auf einem kleinen Schemel sitzt sie, hält ihre Zeitungen vor der Brust und schaut mit wachen Augen auf die wenigen Passanten, die an ihr vorbeigehen und sie ignorieren. Treppauf die einen, treppab die anderen.
Biss ist die Münchner Straßenzeitung, die von Menschen am Rande der Gesellschaft verkauft wird. 2,20 € kostet ein Heft, 50% des Erlöses geht direkt in die Taschen des Verkäufers. Bürger in sozialen Schwierigkeiten verbirgt sich hinter den vier Buchstaben.

Ich nähere mich der Frau, krame nach meinem Geldbeutel, was sie aufmerksam registriert. Von dem Moment an lässt sie mich nicht mehr aus den Augen. Wie ein Fisch am Haken hat sie mich – aber die Zeitung will und werde ich sowieso kaufen. Das mache ich eigentlich immer, wenn ich in München unterwegs bin, meist am U-Bahnhof Sendlinger Tor, selten in den Wirtshäusern. Ich mag es nicht, wenn Zeitungsverkäufer, gleich welche Blätter sie feilbieten, von Tisch zu Tisch gehen und mir ihre Ware unter die Nase halten.
Während am Sendlinger Tor ein halbes Dutzend dieser Verkäuferinnen und Verkäufer an den Zu- und Ausgängen steht, ist sie hier, die Frau, in der Fraunhoferstraße die einzige. Sie macht einen überaus angenehmen, gepflegten Eindruck – eine Frau in den Fünfzigern, die man von der Optik her eher in einem nahe gelegenen Café am Straßenrand verorten würde, vor ihr einen Cappuccino und einen Pflaumenkuchen als im Zwischengeschoss einer U-Bahnstation Zeitungen verkaufend. Das passt irgendwie nicht. Sie passt nicht ins Klischee derer, die sich ihr Bild über sozialschwache Menschen zurecht gezimmert haben.

Biss - Münchner Straßenzeitung

Ein Lächeln huscht über mein Gesicht, es soll Signal geben, dass ich gleich zum Kaufen zu ihr kommen werde, erst noch muss ich mein Portemonaie aus der Tasche holen. „Bitte haben Sie noch einen Moment Geduld“.
Sie steht auf, reicht mir ein Heft, aber ich sage: „Ich brauche bitte zwei!“ Ein Exemplar möchte ich gerne einer Freundin schicken, die irgendwo In-the-middle-of-nowhere lebt und solche Zeitungen noch nie in der Hand hatte, aber gerne mal ein solches lesen würde.
Sie gibt mir zwei, verlang 4,40 €, ich habe nur einen Zwanziger, bemerke mir Bedauern, dass mein Kleingeld vorhin im U-Bahn-Fahrkartenautomat versenkt wurde, sie aber antwortet, „Das macht nichts.“
Zwei fünf Euro-Scheine fingert sie aus der Tasche überreicht sie mir. „Hier schon mal zehn“ sagt sie in einem Deutsch, das nicht akzentfrei, aber flüssig ist. Es klingt leicht italienisch gefärbt, aber ich kann mich auch irren. Dann greift sie in die Tasche, holt eine Handvoll Münzen hervor und sucht die richtigen zusammen.
Es wird schwierig für einen Moment. Sie überlegt angestrengt, wie viel sie mir geben muss, reicht mir drei Zwei-Eurostücke, ich gebe ihr einen zurück mit der Bemerkung, dass das zu viel sei. Sie gibt mir einen Euro und schaut mich hilfesuchend an.
„5,60 Euro bekomme ich noch“, rette ich sie aus der Rechenfalle. „Noch sechzig Cent.“

Den Fünfziger findet sie sofort, lange aber sucht sie nach einem Zehner, den ich mit einem Blick auf ihrem flachen Handteller bereits habe liegen sehen. Das ist weder Taktik noch Strategie, das ist ein kolossaler Stressmoment für sie. Das merkt man ihr an. Endlich findet sie ihn, fischt ihn mit lackierten, glitzernden Fingernägeln hervor und reicht ihn mir mit einem Lächeln. Das Geld stimmt, ich bedanke und verabschiede mich.

Seit dieser Begegnung geht mir eine Facebook-Diskussion nicht aus dem Kopf, die ich vor ein paar Monaten zu diesem Thema führte. Damals lud ich ein Foto einer Biss hoch versehen mit den Worten:
„Mal ehrlich: Wann habt Ihr das letzte Mal eine Straßenzeitung gekauft? Oder überhaupt schon einmal eine? Bitte, Leute, kauft diese Straßenzeitungen. Das ist das Allermindeste, was wir tun können, um den Menschen am Rand der Gesellschaft zu helfen. Und sagt bitte nicht, es wurde Euch noch nie eine angeboten.“Biss - Münchner Straßenzeitung

 

Es sollte ein Plädoyer sein, solche Zeitungen mal zu kaufen und nicht immer achtlos an den Verkäufern vorbeizugehen und so zu tun, als sähe man sie nicht. Natürlich hatte ich dabei auch die nicht endenwollenden, unsäglichen Äußerungen überwiegend stramm rechter Doitschnazis in den sozialen Medien im Kopf, in denen immer wieder davon die Rede ist, dass man es den Flüchtlingen hinten und vorne reinschiebe, aber um die Obdachlosen im eigenen Land kümmere dich niemand… bla bla bla.

Natürlich habe ich Leute mit solch einer Gesinnung nicht in meiner FB-Freundesliste (hoffe ich zumindest). Wort- und bildgleich getwittert hoffte ich, dass es auch dort geteilt würde. Ich wollte es denen, die sich immer wortgewaltig zum Fürsprecher der Obdachlosen machen und diese gegen Flüchtlinge ausspielen, machen (oder die davon permanent lesen müssen)ssen, vor Augen führen, dass diese hetzenden Maulhelden nicht einmal eine Zeitung kaufen, um diese Menschen zu unterstützen, sondern Obdachlose einfach nur für ihre erbärmliche Agitation instrumentalisieren.

Und die Frau?

Ich habe überschlagen: Am frühen Nachmittag, als ich sie treffe, hat die Biss-Verkäuferin rund 30 Euro eingenommen, sofern das Geld, dass sie auf der Hand hatte, ihre Einnahmen sind. Das bedeutet: Bis zu unserer Begegnung hat sie rund 15€ Verdienst. Ich weiß nicht, seit wann sie in der Station sitzt, ich weiß nicht, wie lange sie dort noch bleiben wird. Ein kläglicher Lohn, kaum mehr als ein Zubrot, ein Taschengeld für einen langen Tag.
Aber ehrlich verdient – erarbeitet. Weil die Verkäuferinnen und Verkäufer kein Geld annehmen, ohne eine Zeitung abzugeben. Das bewahrt ihnen ihre Würde. Sie betteln nicht. Und so lange es Menschen gibt, die ihnen ihre Zeitungen abkaufen, wird ihnen auch der Weg in die Bettelei erspart. Schon deshalb kaufe ich Biss.

Als ich drei Stunden später auf dem Rückweg wieder an ihr vorbei komme, sitzt sie noch immer da. Unsere Blicke kreuzen sich, ich versuche ein Lächeln (ich bin nicht so gut darin, andere Leute anzulächeln), das sie aufnimmt und quittiert. Ich bilde mir ein, dass sie mich wiedererkennt und sich erinnert: Das war doch der Typ, der vorhin gleich zwei Hefte gekauft hat.

Ja genau, der ist das. Und der fährt jetzt mit der Rolltreppe hinunter zum Gleis und hat auf der U-Bahnfahrt zu seinem Auto was zu lesen. Und die andere Biss schickt er in die tiefe Provinz.


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2 Antworten

  1. Naya sagt:

    Ich finde solche Zeitungen auch eine tolle Sache!
    Die aktuelle hannoversche Variante „Asphalt“ liegt gerade noch neben mir, da waren zwei Artikel drin, die ich mir aufheben wollte. Denn neben dem Aspekt, daß man damit jemandem hilft, ist zumindest die Asphalt auch gut geschrieben, so daß ich sie wirklich gerne kaufe!

  2. zwetschgenmann sagt:

    e-Mail Zuschrift der BISS-Redaktion:

    danke für Ihre E-Mail und Ihren aufmerksamen und engagierten Beitrag, den ich eben in Ruhe und mit Vergnügen gelesen habe. Ein Detail zur Ergänzung: Wir haben rund 100 Verkäufer, davon sind 51 sozialversicherungspflichtig angestellt. Sie bekommen ihr festes Gehalt, auch in Krankheits- und Urlaubszeiten (leider gibt es das bis jetzt nur in München). Das Gehalt ist ordentlich und liegt über dem Mindestlohn.

    In der aktuellen BISS vom Oktober ist auf S. 28/29 ein „Rückblick mit Ausblick“, da veröffentlichen wir das Ergebnis des Vorjahres, also die Verkäuferstatistik und eine Zusammenfassung der Gewinn- und Verlustrechnung. Es ist gut zu sehen, was BISS dank der Zeitungskäufer und Spender für bedürftige Menschen ausgeben und damit deren Leben verbessern kann.

    Alles Gute und ich hoffe, Sie bleiben weiterhin ein treuer Leser!

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