Flucht ins Wasser

Es gibt Tage, da hat man einfach genug – genug von allem. Nicht mehr reden müssen, nicht mehr zuhören müssen, nicht mehr im Auto sitzen können oder wollen. Nicht mehr durch das plötzlich verwaiste Elternhaus laufen, nicht mehr bei jedem Gegenstand schwanken zwischen der Frage, ob es eine erhaltenswerte Geschichte/Erinnerung birgt oder dem Entsetzen, das alles entsorgen zu müssen und nicht zu wissen, wo anfangen.
Keine schwarzumrandeten Briefe mehr entgegennehmen. Keine schwarze oder zumindest gedeckte Garderobe mehr anziehen wollen. Barfuß laufen, das wär’s jetzt.
Keine Sentimentalitäten mehr zulassen, keine Tränen.
Heute ist so ein Tag.
Ich bin wieder daheim, packe nach der Devise Je bunter je besser meine Schwimmtasche und nehme daher ein wildes, pi-pa-poppiges Farbpotbourri mit. Ich will Farbe an mir. Farbe um mich.
Egal, ob irgendwas zu irgendwas passt, egal, ob Pullbuoy, Brille und die neuen Paddle unterschiedliche grüne Nuancen haben. Scheiß doch der Hund drauf…bunt-bitte
Den Tag Sonderurlaub, den ich heute noch habe, will ich nutzen. Für mich.
Ich muss meinen Kopf frei bekommen. Also fahre ich nach ein paar Rumräumereien in Haus und Garten los ins örtliche Freibad, hoffe auf eine freie Bahn und die Wirkung des Wassers.
speedGezieltes Abschalten – Speedintervalle, gemütliches Kraulen, geheime Rennen mit dem Schwimmer auf der Nebenbahn. Viel Rechnen, wenig Denken. Nach zwei Kilometern lege ich die neuen Paddle an.
Die Neuen, die ich kaufen musste, weil man die Silikonschläuche nicht nachbestellen kann, sind eigentlich zu groß. M hätte es auch getan. Warum ich L gekauft habe, weiß ich nicht, die alten sind doch auch nur M. Ich habe nicht solche Pranken, ich habe nur nicht richtig hingeschaut. Ich hatte anderes im Kopf. Wichtigeres.
Egal. Dann schwimme ich eben ab heute mit bratpfannengroßen, giftgrünen Paddles.
Der neuen Quicksilver-Hose aus dem Schlussverkauf hingegen hätte ein L vielleicht besser getan als ein M. Aber L gab es nicht mehr. M hat ultrareduziert auch nur 6 Euro gekostet, ein Bruchteil des Ursprungspreises. Sie passt – so gerade noch. Kein Fall für die Mülltonne, in der sie sonst gelandet wäre.
Dazu kommen funkelnagelneue feuerrote Flip-Flops aus dem PumaShop im Wertheim-Village, das lag am Weg, da konnte ich nicht widerstehen. Da musste ich hin, schon allein wegen der schwarzgelben Garderobe.
Bisweilen ist schwimmen eine Flucht – eine Flucht ins Wasser, um sich der Realität und ihren Ansprüchen zu entziehen. Kein Ab- aber doch zumindest ein begrenztes Untertauchen. Schwimmen gegen das Ertrinken im Alltag. Wenn man es schafft, sich dem Element hinzugeben, in den Flow kommt, dann ist mit einem Mal alles andere gleichgültig. Zumindest in diesem Moment…
Nach drei Kilometern füllt sich das Bad. Es ist Mittagszeit, die ersten Familien rücken an – viele Schüler, die es wohl mittlerweile auch aus dem Bett geschafft haben, erobern den Sprungturm. Es wird laut, chaotisch, voll, eng. Ich verliere das Privileg der Bahn für mich. Eine Frau, die mit Sonnenbrille schwimmt, macht sie mir streitig. Das alles macht aber nichts. Ich bin nicht in der Stimmung, mit ihr einen Kampf um die Bahn zu beginnen. Die vier mache ich noch voll. Das ist genug.
Was ich wollte, habe ich erreicht. Ich kann gehen.
Jetzt, liebe Leute, bin ich wieder im Lot. Jetzt dürfen Notar, Nachlassgericht und Co. und wer sonst noch was will, mich gerne wieder ansprechen.


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3 Antworten

  1. Kraulquappe sagt:

    Das kann ich dir gut nachfühlen! Wasser reinigt, fungiert als Ableiter, nimmt Frust auf, spendet neues Leben. Gut, dass du dir das heute und v.a. nach diesen traurigen, strapaziösen Erlebnissen gönnen konntest!
    Ich wünsch‘ dir gutes Freischwimmen.
    Die Kraulquappe.

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