Einmal noch die Freiheit spüren

„Rein oder nicht rein. Das ist hier die Frage!“
Ich stehe am Ufer des Kronthaler Weihers und zögere. Aber nur einen kurzen Moment. Denn ich bin ja extra hergekommen, um schwimmen zu gehen. Also stellt sich diese Frage nicht. Ich stelle sie trotzdem.
Dabei habe ich mich seit Tagen auf diesen Nachmittag gefreut. Das Wetter passt, für Ende September ist es erstaunlich warm, hin und wieder lugt die Sonne hervor. Am Wochenende soll von Westen her Regen heranziehen, wann also, wenn nicht jetzt?
Ich zögere immer noch.
Was, wenn ich jetzt nicht schwimmen gehe?
Was würde ich verlieren?
Als allererstes verliere ich vermutlich die Selbstachtung. Wie gesagt: Ich wollte das tun, also mach ich das auch. Alles andere wäre inkonsequent und unlogisch.
Und ich würde mein Gesicht verlieren.
Denn natürlich bin ich für die wenigen alten Männer, die am Kiosk sitzen und Bier trinken, zum Objekt ihrer Beobachtung geworden, ebenso für zwei Frauen, die sich einige Meter weiter auf die Wiese gesetzt haben.
Sie behalten mich im Blick und warten, dass ich endlich meinen Neoprenanzug angezogen habe und ins Wasser steige. Rechnen die ernsthaft damit, dass ich im letzten Moment kneife?
Paahhh!
Während ich mich umziehe, werde ich nicht nur observiert, ich werde auch Gesprächsthema. Zwei Ehepaare gehen gemeinsam spazieren. Sie bleiben stehen, schauen mi ebenfalls zu und diskutieren lautstark. Wie schön, dass alle so schwerhörig zu sein scheinen, dass sie sich schier anbrüllen, da bekomme ich wenigstens mit, worum es geht.
Eine der beiden Frauen fragt ihren Mann, ob er nicht auch noch mal schwimmen gehen möchte.
„Auf gar keinen Fall“, erwidert der. „Das Wasser ist viel zu kalt!“
„Du könntest doch auch so einen Gummianzug anziehen“, schlägt die Frau vor und deutet auf mich. „Der macht schön schlank…“
„Soweit kommt’s noch“, gibt der Mann zurück. „Ich mach mich doch nicht zum Affen. Und in so ein Ding komm ich sowieso nicht rein!“
Die Frauen lachen.
Die andere fragt nun ihren Mann, was denn mit ihm sei. Im Sommer sei er doch nahezu täglich in den Weiher gestiegen.
Allerdings winkt auch der andere Ehemann ab.
„Naaa.“ Er zieht das Aaaa einmal herum um den ganzen Weiher.
„Komm“, provoziert ihn die Frau. „So ein paar Meter.“
„Da müsst ich ja schön verrückt sein“, trotzt der Mann. Er spreizt Zeigefinger und Daumen ein wenig auseinander und hält sie seiner Frau vor die Nase. „Das Wasser ist bestimmt sooo kalt.“
Er findet das originell. Soll er.
„Und der da? Der ist doch auch nicht verrückt.“
„Der schwimmt doch in einem Neoprenanzug. Dann kann das ja jeder.“
Spätestens jetzt sollte ich dazwischen gehen und den vieren zurufen, dass es gut möglich ist, dass das jeder kann, aber noch lange nicht jeder macht. Die Freiheit sollte ich mir einfach mal nehmen. Oder dem Mann anbieten, er könne gerne den Neoprenanzug haben, eine zweite Badehose hab ich auch dabei.
„Hic Rhodos! Hic salta!“
Oder für die Zipflklatscha übersetzt: „Red nicht daher – mach halt!“
Das wäre es jetzt.

Erhobenen Hauptes mit einem Jetzt erst recht schreite ich ins Wasser, das, wie ich später messe, zärtliche 15°C hat. Aber es kommt mir wärmer vor, wenn die ersten Meter erst einmal überwunden sind.
Trotzdem: Es war eine kluge Entscheidung, die große AquaSphere-Vista aufzusetzen, auch eine zweite Badekappe war kein Fehler. Denn irgendwann wird es doch etwas frisch an der Stirn.

Das Schwimmen heute ist sensationell. Vielleicht, weil sonst einfach niemand im Wasser ist…
Wie töricht wäre es gewesen, es nicht zu tun.
Einige Male war ich in den vergangenen Wochen in Giesing-Harlaching im Hallenbad. Auch wenn es nicht überfüllt war, drängten wir uns doch zeitweilig zu viert oder fünft auf der Sportbahn. Dort duftet es nach Chloramiden und Knoblauch, es ist ein permanenter Wechsel aus Überholen und Überholtwerden, da die Schwimmgeschwindigkeiten recht unterschiedlich sind. Nicht selten geschieht das Überholen mit Gegenverkehr. Und wenn man einer notorischen Rückenpaddlerin an den Fersen klebt und hofft, sie an der Stirnseite überholen zu können, kann das auf Dauer schon nerven, wenn diese gar nicht daran denkt, eine Sekunde zu warten und einen Schnelleren vorbei zu lassen. Da weiß man, was man am herbstlichen Weiher hat: Freiheit und Einsamkeit.
Die ist zwar auch nicht endlos, aber trotzdem ein Riesengenuss. Fast noch mehr als im Sommer. Diese Freiheit und die Einsamkeit sind genau das, was ich am Schwimmen am allermeisten liebe. So könnte es immer sein.

Langsam schieben sich Wolken vor die Sonne, der Himmel trübt sich ein – warm bleibt es trotzdem und ich beende nach einer Stunde ein Schwimmen, das sicher zu den entspanntesten des ganzen Jahres gehört.
Ein wenig gruselt es mich bei dem Gedanken, dass es vielleicht das letzte Mal war, dass ich dieses Jahr im Weiher geschwommen bin und mir schon bald nur noch die Halle bleibt.
Aber noch ist es nicht so weit.
Noch nicht.
Aber es sind auch nur 220 Tage bis zum Mai 2018, spätestens dann heißt es ja wieder: Freiwasser, ich komme!

Eventuell aber gehe ich vorher noch mal. Morgen vielleicht?


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