Ecce Homo – eines meiner wichtigsten Fotos
Dieser Beitrag ist Teil einer kleinen Serie über Nachhaltigkeit und Verantwortlichkeit beim Bloggen.
Ecce Homo – Sehet, ein Mensch!
Bei einem Besuch im Essener Folkwang Museum Ende September stoße ich auf Honoré Daumiers so benanntes Bild und eine Texttafel dazu. Sein „Ecce Homo“ zeigt Christus nach dem Prozess vor Pilatus, als dieser ihn der geifernden und spottenden Menschenmenge zur Schau stellt. „Sehet den Menschen!“
„Immer wieder hat die christliche Bildtradition Künstlerinnen und Künstler inspiriert, neue Ausdrucksmittel zu entwickeln, um den Menschen in seiner Fehlbarkeit und Verletzlichkeit plastische Gestalt zu verleihen.“ So steht es auf der erklärenden Texttafel. Das Ecce-Homo-Motiv ist in der Kunst häufig anzutreffen. Es zeigt Jesus Christus.
Erniedrigt, gedemütigt, gequält, bloßgestellt, verspottet. Ganz unten.
Ecce Homo – Sie auch?
In meinem Bilderbogen Venedig, den ich im Juni in diesem Blog veröffentlicht habe, fällt ein Bild aus dem Rahmen. Es zeigt eine vermutlich osteuropäische Bettlerin am Fuße des Rialto in Venedig. Sie bildete einen extremen Widerspruch zu all dem hektischen Treiben, den Touristen, den Luxusboutiquen und Shopping-Queens, dass ich sie einfach fotografieren wollte. Selbst wenn das Bild auch in nahezu jeder anderen europäischen Stadt hätte aufgenommen sein können und nichts von dem sie umgebenen venezianischen Luxus, dem hektischen Treiben und den Touristenströmen zeigt. Ich habe sie mit dem Tele aus großer Ferne fotografiert – selbstverständlich nicht ins Gesicht.
Das gebieten der Respekt und eine Achtsamkeit gegenüber dem Menschen. In diesem Fall wäre das eine für mich unerträgliche Bloßstellung eines anderen Menschen in einer Pose der kolossalen Selbsterniedrigung, jeglicher Würde beraubt und vollkommen allein. Eine Ausschnittvergrößerung holt die bettelnde Frau noch näher ran, als es in Wirklichkeit der Fall war.
Ich habe das Bild mittlerweile auch in Schwarzweiß übertragen. Das macht es meiner Meinung nach noch etwas eindringlicher. Aber das ist letztlich Geschmackssache.
Mag sein, dass es etwas anmaßend klingt, für mich aber ist es fast ein Ecce Homo Motiv. Ein Foto, das den Menschen ganz unten zeigt, am Boden; wörtlich und im übertragenen Sinn. Aber immer noch ein Mensch. Normalerweise mache ich solche Bilder nicht. Sicher ist es nicht das beste Foto, das ich in den vergangenen Jahren gemacht habe, allerdings halte ich es für eines der (für mich) wichtigsten, nachhaltigsten Fotos.
Auch wenn ich es nur amateurhaft betreibe: Für mich besteht Fotografie aus so viel mehr als nur aus Schnappschüssen im Urlaub und bei Familienfeiern, aus Landschaften, Sonnenuntergängen, meinen Lieblingstieren und Food Porn. Leere Landschaften, leere Gebäude, leere Räume – so habe ich es eigentlich am liebsten. Gelegentlich aber lockt auch das Motiv Mensch: Street Photography eher als Portrait. Dazu gehört eben auch dieses Bild.
Vielleicht ist die Frau Mitglied in einer Bettelbande, vermutlich sogar. Aber auch wenn es so ist: Dann ganz sicher nicht freiwillig. Und ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass sie sich ohne Zögern, ohne innerlichen Schmerz selbst ihrer Würde beraubt, sich kolossal erniedrigt und um Almosen bittet, Geld, das sie mutmaßlich nicht einmal behalten darf. Was geht in einem Menschen vor, der so etwas mit sich machen lässt, der keine andere Wahl, keine andere Perspektive mehr hat?
Ich weiß nicht, ob sie auf der untersten Stufe der europäischen Gesellschaft angekommen ist. Falls nicht: Viel tiefer kann es nicht mehr gehen. Vergleiche ich dieses Foto mit Britta Petersens Bild einer Bettlerin in Berlin – zu sehen im Beitrag über die Hundeausstellung im Bayerischen Nationalmuseum – denke ich: Diese Frau in Venedig ist noch viel weiter unten. Auch wenn ich das nicht wirklich beurteilen kann und es vielleicht auch anmaßend ist, ein Ranking des Elends zu veranstalten.
Ursprünglich wollte ich dieses Bild in meinem Beitrag über Street Photography zeigen und ein paar Wörter dazu verlieren. Dann aber erschien es mir zu mächtig, zu wuchtig, es bedarf einer Alleinstellung.
Ich möchte es zeigen – weil es ein Mensch ist.
Noch immer ein Mensch.
Darüber sollten wir uns im Klaren sein. Auch beim Fotografieren, auch beim Veröffentlichen der Bilder wie zum Beispiel im Blog oder den sozialen Medien.
Vielen Dank fürs Lesen.
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ja das ist leider Realität und zwar auch in Europa wo die reichsten und wichtigsten Industriestaaten zuhause sind. Ich finde das Bild sehr sehr gelungen und auf jeden Fall passend zur jetzigen Zeit, wenn auch schockierend ! Man kann sich das nicht vorstellen dass sowas in Venedig möglich ist, wo täglich tausende von Touristen durch diese Stadt strömen. Ich war gestern in einem S-Bahnhof in Stuttgart und da sieht man ähnliches ! Ich bin überzeugt dass man solche Fotos in Deutschland täglich zu hunderte machen könnte ! Toll dass du die Würde des Menschen akzeptierst und kein Gesicht zu erkennen ist. Die s/w Variante ist für mich passender zur Sitiuation.