Die Brille der anderen
In meiner kleinen Texte-Halde, dem Entwürfe-Ordner dieses Blogs, liegt ein Beitrag, den ich Anfang Februar geschrieben habe. Das war, als das öffentliche Leben noch ein Anderes war und die Sorgen der Leute um ganz andere Themen kreisten. Fast schon Nichtigkeiten.
Keine zwei Monate später wirkt das Geschilderte wie aus der Zeit gefallen, das Problem irgendwie banal.
Trotzdem veröffentlichen? Oder gerade deshalb?
Ja – ich finde schon. Und zwar vollkommen unverändert.
Frau B., eine betagte Dame in den 80ern, ist bekümmert. Eine neue Brille hat sie sich Anfang des Jahres gekauft, eine sehr moderne; ein Designermodell mit Gleitsichtgläsern, also eine richtig teure Investition.
Und das einzige, was der Herr Enkel zu dieser Neuanschaffung zu sagen hat, ist: „Mit der Brille siehst Du aus wie eine pensionierte Handarbeitslehrerin.“
Das hat gesessen. Mit seiner Bemerkung hat er offensichtlich nicht ganz unrecht, aber die schonungslose Härte und erfrischende Ehrlichkeit aber hat die alte Dame mehr als verunsichert. Daheim setzt sie die neue Brille auf die Nase, klemmt die Bügel hinter die Ohren und schaut sich kritisch im Spiegel an. Ja, wie eine Handarbeitslehrerin im Ruhestand. Da ist was dran.
Und schon entwickelt sie gewisse Aversionen gegen die neue Brille, kaum dass sie sie ein paar Tage ihr Eigentum nennt. Sie fühlt sich einfach nicht mehr wohl damit, sie möchte damit nicht gesehen werden, denn ein jeder könnte jetzt in ihr eine Handarbeitslehrerin erkennen, und das will sie nicht. Sie war ja auch nie eine.
Die Brille verschwindet zunächst im Etui, die alte Brille wird weiter benutzt. Doch aus dem Auge aus dem Sinn ist keine Lösung. Sicher: Jeder leistet sich mal einen Fehlgriff, mal eine Hose, bei der die Familie die Augen verdreht, mal ein T-Shirt, bei dem es heißt „So willst Du ja wohl nicht auf die Straße gehen…“
Beides lässt sich dann in den meisten Fällen entweder zurücktragen oder -schicken, was wohl in Amazon- und Zalandozeiten die häufigere Variante ist. Geld gibt es dann auch zurück, zumindest einen Gutschein für eine andere Ware und das Dilemma hat sich erledigt. So wandelt sich aus der Niederlage alles zum Guten. Und selbst, wenn man es nicht zurückgeben kann, was ja auch bisweilen vorkommt, dann kann man es schamvoll weitervererben, sprich: In der Altkleidersammlung versenken.
Nicht so bei Brillen, für die die Gläser individuell angepasst werden mussten. und für die man noch dazu ein kleines Vermögen hingeblättert hat. Denn Frau B. wollte ja chic aussehen, modisch, elegant, modern – und nicht wie eine abgehalfterte Lehrerin, die gestreng durch ihre Brille stiert, derweil sie den Faden durchs Nadelöhr friemelt. Das Feindbild greift – klar: Ich muss mich nur an die grauenhafte Handarbeitslehrerin erinnern, die meine Tochter in ihrer Grundschule hatte. Eine durch und durch unmögliche wie unfähige Person. Ich gebe Frau B. recht: Mit solchen Leuten will man sich nicht gemein machen. Auf keinen Fall. Was macht man mit einer solchen Brille, die ein Fehlkauf war?
Und noch etwas wurmt Frau B: „Da musste ich so alt werden, um mir von einem Verkäufer etwas aufschwatzen zu lassen, was ich eigentlich nicht wollte. Denn ich fand diese Modelle damals schon, als sie das erste Mal modern waren, scheußlich,“ seufzt sie und ärgert sich über sich selbst, dass ihr soetwas widerfahren ist. „Also nein! Also nein.“
Aber irgendwann ist immer das erste Mal, irgendwann lässt sich jeder von übereifrigem Verkaufspersonal etwas aufschwatzen, was an nicht wirklich haben wollte. Jedenfalls nicht so.
Jetzt muss der Enkel seine betagte Großmutter beim erneuten Brillenneukauf begleiten und beraten. Das hat er nun davon. Denn er muss im großmütterlichen Aufrag den Stilberater mimen und verhindern, dass sie wieder ein Modell kauft, mit dem er am Ende nicht zufrieden ist. „Nicht, dass ich wieder eine kaufe und der Bub meint, ich sähe aus wie eine pensionierte….“
Ja was?
Ihr fällt kein Vergleich ein, kein weiteres „Feindbild“. Handarbeitslehrerin ist aber auch eine verdammt hohe Messlatte. Schwer zu toppen. Was könnte schlimmer sein?
Wie so eine Renate?
Sagen Sie’s mir.
Vielen Dank fürs Lesen.
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