Vom Glotzen und vom Gondeln
Wer ganz oben ist, hat den beste Überblick!
Diese Binsenweisheit gilt noch immer, von Ausnahmen einmal abgesehen. Eine dieser Ausnahmen mag der eine oder andere aus dem Arbeitsleben kennen: Ganz oben in der Firmenhierarchie zu stehen bedeutet noch lange nicht, den besten Überblick über alles zu haben. Aber das ist ein anderes Thema, das in unserem Zusammenhang nicht weiter relevant ist.
Aber so mancher Benutzer des „Real Life“ weiß auch, wie schön es ist, von oben über Stadt, Land, Fluss zu schauen. Sie wandern oder gondeln auf Bergspitzen, Hochplateaus usw., um sich über das schöne Panorama einen Überblick zu verschaffen. Andere erklimmen – wo möglich – Kirchtürme, besteigen Monumentalstatuen von innen oder lassen sich mit Fahrstühlen an die Spitze der Fernsehtürme schießen… und sehen dann hinab auf die Stadt mit ihrer mal mehr mal weniger beeindruckenden Skyline.
München hat allerdings in Sachen Skyline eher wenig zu bieten. Aber sofern die Witterung mitspielt, verzaubert die Stadt mit einem betörenden Blick bis weit hinein in die Alpen; vorausgesetzt man ist hoch genug. Ansonsten ist das Münchner Panorama weniger beeindruckend als zum Beispiel das Frankfurter. Hoch gebaut darf eben hier nicht. Dafür hat München andere Qualitäten.
Eine davon ist das Oktoberfest. Das zieht nicht nur Hiesige an, auch Frankfurter und andere Bewohner der Rhein-Main-Region finden sich ein. Angeblich kommen sogar Menschen aus der fernen Hauptstadt, aus Italien oder bisweilen aus Amerika, um dieses herbstliche Spektakel in Dirndl und Lederhosn zu genießen.
Nicht aus Amerika aber aus der Rhein-Main-Region haben wir Anfang Oktober Besuch, natürlich auch der Wiesn wegen. Das ist in Ordnung, gemeinsam flanieren wir zwischen Zelten und Schaustellerbuden, Fahrgeschäften, Biergärten und Fressständen umher und steuern irgendwann auf das Riesenrad zu. Und wie war das noch?
Wer ganz oben ist, hat den besten Überblick!
Also entschließen Freund Jochen und ich, uns eine Runde mit dem Riesenrad zu gönnen und mal von oben einen Blick auf die Theresienwiese zu werfen. Das könnte man theoretisch auch von einem FreeFall-Tower aus, aber erstens bringen mich keine zehn Pferde in so ein Teil und zweitens ist der Überblick dort von extrem kurzer Dauer und dann kommt der Boden schon wieder so verdammt schnell näher.
Während uns Haindling-Musik von oben betröpfelt, stehen wir in der Schlange an der Kasse, zahlen den nicht gerade günstigen Tarif von 7 Euro für ein paar Runden und eine Fahrzeit von unter 10 Minuten und stellen uns dann an. Schnell ist die Ausgangslage überblickt: Wir müssen auf der rechten Seite und möglichst weit vorne sitzen, dann hat man nicht nur die Wiesn im Blick sondern schaut nach Osten, also über die Stadt.
Irgendwann gelangen wir in die Gondel, sogar richtig platziert und zwängen uns zwischen eine eher eigenartig anmutende Familie, bzw. nur den weiblichen Teil davon. Direkt uns gegenüber nehmen noch zwei weitere, mitreisende Frauen vom Modell „Ich wäre gern die schöne Münchnerin“ Platz.
Langsam hebt sich das Riesenrad, die sonderbare Rumpffamilie, die drei Generationen überspannt, ist eifrig mit Telefonieren und WhatsApp beschäftigt. Offensichtlich ist man mit den Männern des Clans irgendwo auf der Wiesn verabredet. Aber wann und wo weiß keiner so genau. Und das muss jetzt sofort geklärt werden. Riesenrad hin oder her. Die Frauen benehmen sich, als säßen sie in einer x-beliebigen Straßenbahn. Aber wir sind ja auch noch nicht so richtig losgegondelt.
Nur die kleine Tochter, die etwa vier Jahre alt ist, schaut aus dem Fenster und zeigt aufgeregt auf die anderen Fahrgeschäfte, die sie auf dem Festplatz erspäht. Ihrer Mutter verkündet sie, was sie alles noch gern fahren möchte. Die Mutter, neben mir sitzend, erklärt ihrer Tochter immer wieder, dafür sei sie noch zu klein.
„Da darfst du noch nicht mitfahren. Und selbst wenn: Da wirst Du Dir aber so was von in die Hosen scheißen.“
Das sagt sie nicht einmal sondern eher fünf Mal, also so was von. Alle anderen Familienmitglieder, sowie die beiden fremden nicht ganz so schönen Münchnerinnen, Jochen und ich sollen das schließlich auch hören. Sie hofft auf irgendeine Art Reaktion von den anderen und blickt entsprechend Zustimmung heischend in die Runde. Dem Kind ist das egal. Es fragt weiter und weiter. Und jedes Mal heißt es: „Da scheißt Du Dir doch nur die Hosen voll!“
Mittlerweile ist unsere Gondel auf 12 Uhr angekommen: Also ganz oben. Sie bleibt stehen. Unten steigen Leute aus und andere Fahrgäste wieder ein. Alle, nur das kleine Kind ausgenommen, fotografieren mit ihren Handys oder kleinen Digitalkameras, was das Zeug hält. Man springt auf, dreht sich zum fensterlosen Teil der Gondel und knipst und knipst und knipst… Ich mache da keine Ausnahme.
Die eine der beiden Frauen versucht noch ein paar Selfies, dann geht es langsam wieder abwärts. Da es nun immer weniger draußen zu sehen gibt, beschäftigen sich fast alle Neune, das kleine Kind wieder ausgenommen, mit der jeweiligen fotografischen Ausbeute. Alle begutachten auf ihren Displays die soeben angefertigten Bilder. Wieder geht es rauf. Ich stecke mein Handy ein und genieße den Blick über die Wiesn und über die Stadt. Ich schaue und schaue und schaue.
Die anderen schauen auch. Aber nur noch auf ihre Displays. Die ersten fangen an, per WhatsApp oder was auch immer die soeben gemachten Bilder irgendwelchen Freunden zuzuschicken. Die Frau in der Ecke koordiniert unter permanenter Rücksprache mit den anderen derweil die Familienzusammenführung und erzählt dabei zusammenhanglos, wie unsagbar voll es dereinst auf der Cranger Kirmes war.
Dacht ich mir doch… den Dialekt kenn ich.
Wieder geht es langsam runter und dann noch einmal wieder rauf. Ich sage zu Jochen, dass es doch Unfug sei, dauernd auf das Display zu starren, statt jetzt erst mal aus dem Fenster zu schauen und dann, wenn man ausgestiegen, die Bilder in Ruhe begutachten.
Er grinst. Den Schuh aber, den ich einfach mal so mitten in die Gondel gestellt habe, zieht sich die mir gegenübersitzende leider nicht so „schöne Münchnerin“ in Dirndl und Jeansjäckchen an und pampt mich an, ob ich damit jetzt etwa sie gemeint hätte…
Ich schüttle den Kopf. Das habe ich natürlich nicht. Was die tut, ist doch mir wurscht! (Ich liebe diesen Satz, den unser Nachbar Hans zur Lebensweisheit perfektioniert hat und den ich von ihm übernommen habe). Und das stimmt: Es ist mir völlig egal, ob die Frau von den drei Runden Riesenrad mittlerweile zweieinhalb auf ihr Handy-Display gestarrt hat oder nicht. Da sie sich aber irgendwie doch angesprochen fühlt, verräumt sie ihr Handy, hebt trotzig ihr Näslein in die Luft und bemüht sich um Contenance. Derweil streut ihre Freundin weiterhin die soeben aus dem Riesenrad geschossenen Fotos in die Welt. Aus der Hüfte erlaube ich mir ein Foto, da es ja gerade mal wieder hinunter geht im Riesenrad. Da ist ja sowieso nicht viel zu sehen, und gleich müssen wir sowieso aussteigen. Wir sind genug gegondelt.
„Du scheißt Dir doch sowieso in die Hosen“, ertönt es ein letztes Mal neben mir, als das kleine Kid noch einmal hinüber zur Achterbahn zeigt und sagt, dass sie unbedingt da mitfahren möchte.
Dann sind wir unten. Haindling empfängt uns mit „Pfeif drauf…“ Recht hat er. Jetzt erst mal ein Bier trinken, dann die Bilder anschauen und dann das Riesenrad fotografieren. Jetzt habe ich ja genug Zeit…
Guter Hüftschuss zum Text.