Ein perfekter Augenblick… und wie man ihn zerstören kann

Am 26.06.2014 überträgt das ZDF das Spiel Deutschland – USA. Es endet 0:1 nach einem Tor von Thomas Müller in der 55. Minute. Ich schaue das Spiel bei Freunden. Nach dem Abpfiff wird gefachsimpelt, geplaudert. Dann trinke ich das Bier aus und radle heim. Es ist ja nur ein Kilometer (laut Google Maps Routenplaner), eine Distanz, die sich laut Mr. Google-Allwissend

  • in 13 Minuten zu Fuß zurücklegen lässt; wie lächerlich. Google beschäftigt offensichtlich nur Fußkranke oder dickleibige Amerikaner, die ihren Bauch nicht bewegt bekommen;
  • in 3 Minuten mit dem Auto bewältigen lässt. Das muss reine Fahrzeit ohne Ein- und Ausparken sein.
  • in 5 Minuten mit dem Rad überwinden lässt, wobei man eine Höhendifferenz von 534m über NN auf 544m über NN berücksichtigen muss. Das kann ich für den Normalfall bestätigen. Aber dieses Mal wird aus den fünf Minuten nichts. Denn keine 200 Meter von unserer Haustür entfernt halte ich unvermittelt an. Und verweile. Denn der Augenblick ist gar zu schön.

Schnell ist mit dem Handy ein Foto gemacht:

20140626_204354

Die Sonne versinkt glutrot, die Luft ist ungewöhnlich klar. Ein Weizenfeld wird von den letzten Sonnenstrahlen beleuchtet, bevor der Feuerball hinter den Bäumen versinkt. Das ist so unsagbar schön, dass ich vom Rad steige, es in die Wiese an den Feldrand lege und einfach stehen bleibe. Nein… natürlich nicht, nicht einfach nur stehenbleiben.  Solche Augenblicke wollen eingefangen und möglichst für die Ewigkeit behalten werden. In der Erinnerung. Und das gelingt zumindest mit der digitalen Erinnerung eines Fotos im Netz, denn das vergisst bekanntlich nie.
Welch ein Fotomotiv und dann keine gute Kamera dabei. Eine Sekunde hadere ich. Bis ich die Spiegelrefelexkamera von zu Hause aus dem Schrank geholt und wieder zurückgeradelt wäre, wäre das Feld vermutlich im Schatten gewesen. Also nehme ich das Handy, drücke ein paar Mal auf den Auslöser und hoffe auf ein gutes Bild. Dann schaue und atme ich den Augenblick. Das Heu der frisch gemähten Wiese duftet sommerlich. Grillen zirpen. Ich setze mich ins Gras neben mein Fahrrad. Das fast orange Weizenfeld verliert langsam an Farbe, wird blasser, wieder heller, fast grau.  Das ist einer der Momente, in denen es um nichts anderes mehr geht, als einfach nur da zu sein. Ein eingefrorenes Standbild des Lebens. Nur einen Augenblick lang. Aber den muss man einfach zu fassen bekommen.

Was bleibt ist eine wunderbare Erinnerung. Und das Handybild. Ein Freund, dem ich später das Foto zeige, sagt, es erinnere ihn an Van Gogh. Das Kornfeld mit Krähen. Welch ein Kompliment:

Van Gogh - Kornfeld mit Krähen

Ein paar Tage später werde ich leichtsinnig, ziehe das Handy-Bild auf den Rechner und jage es durch Photoshop: Auto-Tonwerkorrektur, Auto-Kontrast, Auto-Farbe. Ich finde nicht, dass es das Bild wesentlich besser macht, vor allem zuerstört es die Originalfarben des grauen Himmels am Horizont. Denn in der Ferne, dort, wo die Alpen beginnen, staut sich ein Gewitter. Der Himmel ist nun mal grau mit feinen Nuancen und nicht flächig blau, wie Photoshop das gern korrigiert hätte. Ok, die blaue Fläche rückt es ein wenig mehr in die Ecke zu Van Gogh, das gebe ich zu.

 

20140626_204354-n

 

Ich denke an Faust, der sich nicht vorstellen konnte, solche Augenblicke überhaupt zu erleben und sein Seelenheil dagegen verwettet.

Werd ich zum Augenblicke sagen:
Verweile doch! du bist so schön!
Dann magst du mich in Fesseln schlagen,
Dann will ich gern zugrunde gehn!
Dann mag die Totenglocke schallen,
Dann bist du deines Dienstes frei,
Die Uhr mag stehn, der Zeiger fallen,
Es sei die Zeit für mich vorbei!

(J.W. von Goethe: Faust 1)

Und ich beende das Rumdoktern am Foto, denn je mehr ich das mache, umso mehr zerstöre ich das Bild. Und gleichzeitig die Erinnerung an diesen Moment. Das ist aber noch nicht alles, denn ich blogge darüber. Dadurch wird der Moment weiter zerstört, weil er zerredet wird. Und weil er seine Individualität sowie seine Intimität verliert – er wird öffentlich und damit auch beliebig. Solche Augenblicke sind so persönlich, so intim und individuell. So fragil.
Mag sein, dass der eine oder andere auch genau diesen Moment als den perfekten bezeichnen würde. Das kann vermutlich nur jemand, der das Leben auf dem Land genauso lieben gelernt oder immer schon geliebt hat wie ich, jemand der die Authentizität zu schätzen weiß und den Unterschied zwischen dem echten Landleben und all seinen schönen Seiten sowie Nachteilen wirklich kennt und nicht nur von „Landlust“ und ähnlichen Hochglanzmagazinen und deren bunten, kitischigen und gestellten Schmuckfotos. Für einen anderen Menschen ist das möglicherweise nicht nachvollziehbar und nur fürchterlich banal – und das ist sein gutes Recht. Vielleicht war für ihn der perfekte Moment der, als Thomas Müller das Tor geschossen hat. Auch das ist in Ordnung…

 

 

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6 Antworten

  1. sehr schön geschrieben….

  2. Sarah sagt:

    Naja, die Auto-Funktionen bei PS und LR sind halt nicht immer das Wahre. Und du hast absolut recht, das original ist viel schöner. Ein grauer Himmel, mit Struktur, gehört halt oft zur Stimmung dazu.

  3. Das Bild gilt übrigens als das letzte von van Gogh. Ich habe es unlängst in Amsterdem bewundern können und halte es auch für eines seiner besten. Dein Foto ist wirklich nah dran … Respekt.

  4. MONIKA sagt:

    Gerade habe ich Tränen in den Augen. Einfach nur toll !!!!

  5. Musste gestern Abend an diesen Beitrag denken. Nach dem ganzen Regen haben die Wiesen und Felder am Abend „gedampft“. Im Hintergrund der Wald und die Dämmerung… was für ein schönes Bild. Leider war ich im Auto unterwegs und hatte keine Zeit zum anhalten. Auch ein perfekter Augenblick – in meiner Erinnerung. ;-)

  6. Der zweite Grundkurs in der Fotografie wäre dringend von Nöten.
    Gut Licht Alois

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