Zu unseren Füßen
Sie leben zu unseren Füßen, wir sehen sie nur selten, wenn, dann übersehen wir sie geflissentlich, denn sie stören das Bild von Harmonie. Und im übertragenen Sinne: Sie haben kein Gesicht, jedenfalls keines, das sie herzeigen, geschweige denn ein Öffentliches. Vor einigen Wochen veröffentlichte ein Fotograf auf Mastodon das Foto eines Obdachlosen, der eingerollt in seinem Schlafsack unter dem zurückgesetzten Schaufenster eines Geschäfts schlief. Er „entschuldigte“ sich für das Bild, auch schrieb er, dass er lange gezweifelt habe, es zu veröffentlichen. Aber die Diskrepanz zwischen diesem verarmten Menschen und der Werbung für ein Luxusprodukt, zu dessen Füßen er lag, war es ihm wert. Und doch nagte der Gedanke, hier einer gewissen Armutsromantik Vorschub zu leisten. Ja, man kann darüber diskutieren, ob die Diskrepanz eines Obdachlosen zu Füßen einer Luxuswerbung banalisierend wirkt, platt, manipulativ, grob. Aber mit Sicherheit ist sie nicht romantisierend. Das Romantisieren von „On the Road again“ mag für kinotaugliche Stoffe langen, aber kein Obdachloser Mensch in unseren Städten, der irgendwo in einem Hauseingang schläft, trägt dazu bei, der Armut nur irgendeinen Hauch von Romantik anzuhängen.Und das gilt auch für die Bettler in den Innenstädten. Offen gestanden ist es für mich vollkommen unerheblich, welche Nation sie haben, welche Hautfarbe, welche Sprache sie sprechen, ob sie hier sozial verelendet sind, Teil der „Bettelbanden“ sind oder nicht.
Wer (mit oder ohne Kamera) aufmerksamen Auges durch die Städte flaniert, vor allem dort, wo viele Menschen unterwegs sind, wird oft Bettler sehen. Wenn er sie denn sehen will und nicht über sie hinwegschaut. Denn die meiste Bettler befinden sich buchstäblich zu unseren Füßen.
Und ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass es diesen Menschen nichts ausmacht, Passanten einen Pappbecher, eine Mütze oder eine hohle Hand hinzustrecken und um Almosen zu bitten. Mag sein, dass sie irgendwann abstumpfen, mag sein, dass ihnen nur noch Fatalismus weiterhilft. Ich weiß es nicht.
Als ich 2020 hier einen Beitrag unter dem Titel Ecce Homo – eines meiner wichtigsten Fotos (das Schwarz-Weißbild oben) veröffentlichte und dieses Bild auch in anderen Beiträgen zum Thema in den sozialen Medien verwendete, regte sich die erwartbare Kritik. Es kam Widerspruch, weil das Bild nicht nur irgendeine eine bettelnde Frau am Rialto in Venedig zeigt, sondern möglichweise auch ein Mitglied einer Bettelbande. So, als ob es Bettler erster und zweiter Kategorie gibt.
Das, so werde ich aber nicht müde zu erwähnen, ändert NICHTS daran, dass vor uns auf der Erde ein Mensch um etwas Geld bittet, ein Mensch, der das nicht freiwillig sondern aus der Not heraus tut, ein Mensch, der ganz unten angekommen ist, ein Mensch, über den wir hinweg steigen, den wir keines Blickes mehr würdigen, kaum mehr wahrnehmen. Ein Mensch ganz unten. Ein Mensch ohne Gesicht. Ein Niemand. Ein Nichts.
Und doch: Diese Menschen haben Gesichter, jeder von ihnen. Mal müde und hoffnungslos, mal traurig, mal zornig, mal trotzig, mal fröhlich, mal verzweifelt, mal dankbar. Sie alle haben ein Recht, wahrgenommen zu werden.
Ecce Homo – sieh den Menschen. Auch den zu unseren Füßen!
Manchmal richte ich aus größerer Distanz die Kamera auf sie – nicht aus voyeuristischen Gründen, sondern weil ich mit diesen Fotos, wenn ich unter größtmöglicher Auslegung des Begriffs Street Photography ein Bild mache, zeigen möchte, dass diese Menschen zum öffentlichen Raum dazugehören. Sie sind Teil des Stadt- und Straßenbildes. Es geht dabei nicht um irgendeine Armutsromantik, die ich in Fotos stilisieren möchte. Im Gegenteil. Ich möchte, dass diese Menschen wahrgenommen werden.
Auch von mir. Wie sang einst Elvis?
Take a look at you and me
Are we too blind to see?
Do we simply turn our heads
And look the other way
Well, the world turns
(Aus: In the Ghetto, writer unknown)
Nein, ich kann nicht alle retten, nicht mal einige wenige. Ich kann auch nicht jedem eine Münze in den Hut werfen, aber einigen. Und das mache ich auch. Mal hier, mal dort, den Armen, den Ärmsten, denen, die Hunger haben, denen, die zu unseren Füßen leben.
Und was ich dann nicht will, ist ein „Ja aber“ hören.
Nichts über Bettelbanden, nicht das „die versaufen das doch nur“, nicht das „die sollen gefälligst arbeiten, wer arbeiten will, findet auch eine“, nicht das „nichts zu essen, aber einen Hund haben“, nicht das „wären die mal in ihrem Land geblieben!“, nichts über „wer hierzulande obdachlos ist, ist selbst schuld!“ und schon gar nichts darüber, wem ich mit dem Euro, den ich gerade verschenkt habe, sinnvoller hätte geben können.
Steht es irgendwem zu, mir anzuschaffen, welche Formen der Mildtätigkeit ich zu wählen habe?
Habe ich mich dazu zu erklären oder gar zu rechtfertigen?
Ich denke nicht.
Vielen Dank fürs Lesen.
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Ein sensibles Thema aber gut von dir beschrieben. Eigentlich dürfte es solche Menschen der heutigen Zeit in einem industriell geprägten Europa nicht geben. Jeder Industriestaat sollte sich schämen dafür ! Sicher Ursachen gibt es viele warum ein Mensch betteln muss und es gibt auch schwarze Schafe, aber es muss für jeden enorme Überwindung kosten es zu tun.
Wir verschleudern jedes Jahr Millionen von Euro für unsinnige Projekte und die Politik will die Armut die sich auf unseren Strassen abspielt nicht wahrnehmen . Warum haben wir eine stetige Anzahl von Armutsrentner die Flaschen sammeln müssen ? Auch hier wird das einfach ignoriert.
Man könnte hier viele Beispiele aufzählen die aber den Rahmen natürlich sprengen würden.
Ein trauriger Spiegel unserer Gesellschaft. So gehen wir mit unseren Armen und Kranken um, meist sind sie beides zugleich, völlig egal, in welcher Reihenfolge es dazu gekommen ist. In meiner Stadt sind es so viele wie lange nicht, vielleicht so viele wie noch nie. Wie viele sollen es noch werden? Wie viel falsch verteilten Reichtum können wir uns noch leisten? Fragen über Fragen, seufz
Ich tue mir immer schwer mit Fotos von Menschen, die auf der Straße leben. Nicht weil ich den Fotografen Voyeurismus vorwerfe – wobei es oft genug nichts anderes ist, was zum Knipsen treibt. Aber Voyeurismus ist per se nicht schlecht. Auch nicht, weil ich dem Fotografen eine Romantisierung von Armut unterstellen würde. Selbst Spitzwegs „Armer Poet“ wird erst heute romantisiert. Spitzweg war kein Romantiker, sondern Realist und hat die Armut immer verurteilt mit seinen Bildern. Sein „Poet“ schreibt gegen die Armut an. Nein, meine Bedenken gehen in eine andere Richtung: ich frage mich immer, wie oft – oder wie selten – haben die Fotografen woll die Obdachenlosen um eine Einwilligung zum fotografiert werden gebeten? Sind die abgebildeten Personen mit der Verbreitung ihres Bildes einverstanden? Haben sie vielleicht ihr Abbild aus blanker Not verkauft? So wie es Prostitution aus Not gibt. Die soziale Not anzuklagen rechtfertigt eben nicht die Verletzung der Rechte der Pauperisierten. Die Würde des Menschen endet nicht unter der Brücke. Ich liebe – und betreibe – Streetfotografie. Aber wo ist die Grenze zwischen Dokumentation und Paparazzitum der Armut? Der wunderbare Fotograf Henri Cartier-Bresson hat einmal die Frage, warum seine Fotografien so realistisch seien, sinngemäß so beantwortet: „Die Kunst besteht darin, schnell auszulösen und danach noch schneller davonzulaufen.“ Damit konnte ich mich niemals anfreunden. Aber auch einige meiner Fotos sind so entstanden…