Blogparade ‚Als ich zehn war‘: Vorsicht Schusswaffen
Wenn ich eine Blogparade ausrufe, dann versteht es sich von selbst, dass ich auch selbst daran teilnehme. Mit gutem Beispiel vorneweg… eben.
Ich habe ein wenig gezögert, über was ich schreiben sollte, zumal man dieses Thema ja auch kaum anders als sehr persönlich angehen kann. Ich zögere auch, ausgerechnet über Terrorismus zu schreiben – aber je mehr ich darüber nachdenke: die gefühlte Bedrohungslage war damals, als ich zehn war, höher als heute. Deutlich höher. Hier nun mein Beitrag:
Terrorismus ist für mich nichts Neues. Das gab es schon, als ich Kind war. Als ich zehn war. Der Terrorismus war anders, aber er hat genauso wie heute das Land in Angst, Schrecken und bisweilen Schockstarre versetzt…
Vielleicht erinnern Sie sich:
Die Fahndungsplakate hingen wirklich überall. Vorsicht Schusswaffen stand auf einigen. Auf anderen Vorsicht! Diese Gewalttäter machen von der Schußwaffe rücksichtlos Gebrauch!
Auf Litfaßsäulen, in Postämtern, an den Schwingflügeltüren am Bahnhof, selbst beim Bäcker sah man sie.
Einfach überall.
Gesucht wurden die RAF-Terroristen, damals noch anarchistische Gewalttäter genannt: Die Baader/Meinhof-Bande. Wie das schon klang. Eine Bande…
Die hatten wir Jungs auch. Und auf der anderen Seite der großen Straße, die unseren Stadtteil vom benachbarten trennte, regierte auch eine Bande. Die Karthaus-Bande. Es hieß, dass die heimlich rauchen, sich mit allen schlugen, die sie provozierten, dass sie Mofas frisierten und schon Bier tranken. Klar, Die Rädelsführer waren auch schon etwas älter.
Besser: Man ging ihnen aus dem Weg. Wie den Terroristen.
Viele RAF-Leute der ersten Generation saßen bereits in Haft, die zweite Generation um Christian Klar und Brigitte Mohnhaupt war noch nicht wirklich aktiv, der deutsche Herbst mit all seinen Schrecken sollte erst noch kommen. Es muss eine innere Genugtuung der staatstreuen Bürger bedeutet haben, immer diejenigen auszustreichen, die gefasst worden waren. Es war fast ein wenig wie bei Schiffe versenken: Kreuz gemacht – Treffer – versenkt.
Oder „Bingo“ zu rufen – die erste Reihe haben wir voll.
Wir Kinder liefen täglich an diesen Plakaten auf unserem Schulweg vorbei. Wir wussten nicht, was sich da abspielte, was das für Menschen waren und was ihre Ziele – aber wir gruselten uns vor den Hinweisen Vorsicht! Diese Gewalttäter machen von der Schußwaffe rücksichtlos Gebrauch!
Das stellten wir uns so ähnlich vor wie in den Winnetou-Filmen, die wir gelegentlich im Fernsehen sahen. Da fackelten die Bösen auch nicht lange – die schossen einen gleich über den Haufen.
Bilder der Erinnerung vermischen sich: Es muss in dieser Zeit gewesen sein, da wurde über das ZDF in der Sendung Aktenzeichen XY ein Mensch gesucht, der einen Mord begangen hatte. Er hatte einfach an der Haustür geklingelt und dann den Hausbesitzer direkt durch den von außen geöffneten Briefkastenschlitz erschossen. So oder so ähnlich musste das gewesen sein. Mit der RAF hatte das nichts zu tun. Aber Mörder standen jetzt buchstäblich vor jeder Haustür. Selbst in den eigenen vier Wänden war niemand sicher.
Wir hatten damals auch so einen Briefkasten, dessen Klappe man ohne Probleme hätte heraufdrücken und ins Haus schauen oder schießen können. Und hatten nicht unsere Eltern immer wieder gesagt, wir sollten nicht einfach die Tür aufmachen, wenn es klingelt, sondern erst mal durch den Briefkasten schauen wer draußen steht?
In meiner Phantasie malte ich mir aus, was es bedeutet, die Klappe zu heben, nach draußen zu schauen und dann… wummm. Direkt zwischen die Augen.
Wussten sie, in welche (gefühlte) Todesgefahr sie mich damit brachten?
Sicher nicht.
Bei jedem Klingeln aber hatte ich ein mulmiges Gefühl. Erzählt habe ich es niemandem.
Ich verstand nichts von der RAF, nichts von Terrorismus, ich weiß nicht mal, ob die vielen Bilder in meinem Kopf authentisch aus dieser Zeit stammen oder aus der fortwährenden Präsenz in den Medien. Zeitungen las ich damals noch nicht und vor der Tagesschau war ich meistens im Bett. Erst viele Jahre später habe ich aus Dutzenden von Büchern und Dokumentation die Geschichte der RAF zu überblicken und zu verstehen versucht.
Besser so, meinten damals meine Eltern angesichts der trostlosen, bisweilen schrecklichen Nachrichten, denn neben dem Terrorismus war ja auch die Weltlage nach der Ölkrise, dem Jom-Kippur-Krieg und Watergate nicht gerade stabil. Der Vietnamkrieg neigte sich seinem blutigen Finale entgegen, Willy Brandt trat zurück, Geiselnahmen und Flugzeugentführungen waren weltweit an der Tagesordnung – aber Deutschland wurde Fußballweltmeister. Wenigstens etwas.
Wie hätten meine Eltern nicht damit überfordert sein sollen, uns Kindern zu erklären, warum ein hagerer Mann nur in Unterhosen von der Polizei verhaftet und vor laufender Kamera abgeführt worden war. Wochenlang waren solche Bilder in der Zeitung.Ich glaube auch nicht, dass sie hätten erklären können, warum der gleiche Mann sich im Jahr, als ich zehn geworden bin, zu Tode gehungert hat. Auch das Foto, das seinen Leichnam zeigt, war überell zu sehen, genauso wie das Foto seiner Verhaftung. Schon allein auf das Foto eines Toten zu schauen, gruselte mich.
„Soll er doch!“ war überall die einhellige, mitleidslose Meinung in der Generation und in der Schicht meiner Eltern und Lehrer. „Selbst schuld!“
Das Thema war zu nah, zu emotional und zugleich zu komplex, als dass sich die Bevölkerung damit hätte ernsthaft und offen auseinandersetzen wollen.
Es gab nur schwarz oder weiß – gut oder böse. Und die Terroristen der RAF waren eben böse. Verbrecher, (was sie ja zweifellos waren). Fertig.
Aber noch stand der deutsche Herbst nicht an, noch war der erste Höhe- und Wendepunkt in der Geschichte des deutschen Terrorismus nicht erreicht. Erst drei Jahre später, 1977 sollte bei uns daheim der Fernseher mehr oder weniger auf Dauerbetrieb laufen. Und wenn nicht der, dann das Radio. Nur keine Nachrichten verpassen: Schleyer – Stammheim – Schmidt – Flugzeugentführung – Rasterfahndung – Wischnewski – Mogadischu – Selbstmord – Mord. Die Nachrichten überschlugen sich.
Es gab zahlreiche Verkehrskontrollen von schwer bewaffneten Polizisten, die auf Autobahnen oder deren Zubringern die Fahrzeuge im Schritttempo an sich vorbei fahren ließen und in jedes Auto schauten. Mein Vater schärfte uns bei einer Fahrt in den Urlaub ein, nur ja auf der Rückbank kein Theater im Auto zu machen – als ob eine vierköpfige Familie auf dem Weg in den Österreich-Urlaub in das Raster der Terrorfahnder gepasst hätte…
Und an noch etwas erinnere ich mich: In dieser Zeit verpachteten meine Großeltern ihre Apotheke und wollten sich eine Eigentumswohnung kaufen. Schnell war eine Traumwohnung gefunden. Und das Beste: Im Keller des neugebauten Wohngebäudes war in Swimmingpool, den die Eigentümer benutzen durften. Wir versprachen den Großeltern hoch und heilig, sie täglich zu besuchen, wenn sie denn mit uns im Pool schwimmen gehen würden.
Doch daraus wurde nichts.
Mein Vater redete vom anonymen Wohnblock, wo keiner die Nachbarn kenne, von Tiefgaragen und dem Aufzug von dort bis direkt vor die Wohnungstür, von Autobahn- und Großstadtnähe, dann fiel das Wort von konspirativen Wohnungen, für die solche Häuser ja ideal seien.
Und wisse man denn, wer sich da sonst noch einkaufte oder einmietete?
Meine Großeltern gaben ihm recht. Wir verstanden nicht, worum es ging, nur, dass Oma und Opa lieber eine Wohnung in einem ruhigen Haus in einem anderen Wohnviertel kauften. Der Traum vom „eigenen“ Schwimmbad war geplatzt.
Aber auch sie hatten wohl Angst vor einem möglichen Gebrauch von Schusswaffen in ihrem Haus…
Und hier die Liste aller Blogbeiträge zu der Blogparade Als ich zehn war. Die List wird regelmäßig auf den aktuellen Stand gebracht.
Vielen Dank fürs Lesen.
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Toller Beitrag, ich bin wirklich paff.
Lg Nicky