Vogelstimmen für die Herzen
Für den Jäger ein Buch, das war 2022, für die beiden alten Frauen im Jahr darauf Blumen und Mazipan. 2024 stehe ich wieder vor dem Altenheim in der Nachbargemeinde.
Das Jahr war schlecht, das sagen alle. Aber mein Konto sagt etwas anderes. Zumindest war es nicht so schlecht, dass ich nicht eine oder zwei Karten vom Baum pflücken kann, Geschenke für alte Leute im heim, die vielleicht sonst niemanden haben, der ihnen etwas schenkt, das weiß ich nicht. Aber sie haben sein paar bescheidene Herzenswünsche aufgeschrieben – und es ist so verdammt einfach, ihnen mit der Erfüllung etwas Licht in die Herzen zu tragen. Einfach pflücken, kaufen und im Heim an der Pforte abgeben. Das kann ich mir leisten, wobei das gar nicht die Frage ist: Das will ich mir leisten. Das ist der Punkt.
Denn so eine Gutherzigkeit, ich nenne das mal so, wärmt nun mal auch mein eigenes Gemüt. Es befriedet nicht, das ist klar und es die eigene Freude, etwas Gutes getan zu haben, sollte auch nicht die entscheidende Motivation sein. Aber es ist ein winzig kleiner Mosaikstein der Weltverbesserung, und wenn es nur für die eigene gilt. Vielleicht ist es ein Flügelschlag eines Schmetterlings, vielleicht eine Karma-Investition auf mein eigenes Altsein später. Vielleicht sind das aber auch viel zu viele Gedanken und es ist ganz egal.
Der Advent ist bereits fortgeschritten, als ich es endlich schaffe, am Altenheim vorbeizufahren um am Wunschbaum einen Zettel zu pflücken. Schon vom Parkplatz aus sehe ich, dass der Baum zwar dort steht, wo er immer steht, aber nur noch eine einzige Karte daran hängt. „Schön,“ denke ich. „Das erspart mir die Wahl, welche Karte ich denn nun nehmen soll.“ Es ist ein sehr wärmender und weihnachtlicher Gedanke, dass sich offensichtlich so viele Menschen an diesem Projekt beteiligt haben, dass wirklich jede Heimbewohnerin und jeder Heimbewohner einen Wunsch erfüllt bekommen wird. Dass ich dieses Mal nur einen Beitrag leisten kann, ist darum auch nicht weiter relevant. Vielleicht werde ich das so eingesparte Geld anderweitig nutzen… und ich habe dazu auch schon eine Idee: Herz statt Merz.
Ebenfalls beschleicht mich auf dem kleinen Fußweg zum Baum allerdings der Gedanke, was ich denn nun tun soll, wenn da sich jemand etwas wünscht, was ich nicht kaufen kann oder will, was einigermaßen komplex ist (grüner Pullover xl oder so etwas). Schnell pflücke ich die Karte, überfliege sie kurz, lasse sie in der Jackentasche verschwinden und mache mich selbst auch wieder davon. Zu viele Augen ruhen auf mir, Blicke verfolgen mich durch die Scheibe des Tagesraums. So etwas mag ich nicht.
Erst am Auto lese ich noch einmal die Karte: Schock schwere Not! Eine Wanduhr. Genauer beschrieben als „Vogeluhr mit Vogelstimmen“, aber in weiser Voraussicht hat einer aus dem Personal noch ergänzt, dass es diese Uhr gerade beim Netto gibt. 82 ist die Frau, die sich die Uhr wünscht. Sie soll sie bekommen.
Also: Geh doch zu Netto!
Das mache ich dann auch, bzw. fahre dorthin, denn der ist nicht weit weg und liegt sowieso auf dem Weg. Orientierungslos renne ich durch den Discounter, bis ich die Verkaufsgondeln mit den Sonderprodukten, also den Artikeln, die nur für kurze Zeit angeboten werden, gefunden habe Dreimal laufe ich alle Verkaufsgondeln ab, ich lüfte Schachteln und Kartons, um zu schauen, ob darunter vielleicht noch eine dieser Uhren auffindbar ist. Nix, niente, nada!
Das ist jetzt ziemlich blöd. Höchst wahrscheinlich bin ich zu spät, der Wunschbaum steht ja schon länger da, also sind auch die Karten zwei Wochen alt, vermutlich gab es die Vogelstimmen Uhr genau in dieser Woche und Netto hat längst die Sondersortimente ausgetauscht.
Als Mensch von heute fische ich das Handy aus der Jackentasche, stelle mich so, dass erst gar keiner auf die Idee kommt, ich würde im Supermarkt ein Foto machen wollen (das mögen die da nicht!) und gehe zu Netto Online. Da war ich auch noch nie. In die Suchfunktion tippe ich Uhr mit Vogelstimmen.
Bingo. Da ist die Uhr. Sofort lieferbar und in etwa fünf Tagen bei mir.
„Mach dein Zuhause jetzt zum Singvogel-Paradies!“ verheißt die Produktbeschreibung. „Mit der Vogel-Wanduhr zwitschert zu jeder vollen Stunde ein anderer kleiner ‚Sänger‘ aus der heimischen Vogelwelt – und kombiniert so die Zeitanzeige mit ein wenig Naturkunde! Nachts halten Blaumeise, Nachtigall & Co. allerdings ihren Schnabel, denn von 21 bis 5 Uhr werden die Vogelstimmen automatisch abgeschaltet. Ob im Kinderzimmer, der Küche oder im Gartenhaus: Dank klassischem Holzrahmen passt diese zeitlos schöne Uhr in jedes Ambiente und schafft Naturverbundenheit…Definitiv eine originelle Geschenkidee für Jung und Alt. Damit holst du dir ein Stück Natur nach Hause.“ Na bitte!
Bevor ich sie bestelle, wage ich einen letzten Versuch, doch noch im Laden fündig zu werden. Am Brotbackautomat steht eine Mitarbeiterin, beschickt den Ofen mit Teiglingen und schaut dabei mächtig kompetent aus. Als sie fertig mit dieser Arbeit ist und den Ofen geschlossen hat, spreche ich sie an. Ob sie zufällig diese Uhr noch im Laden hätte, frage ich sie mit wenig Hoffnung auf ein „Ja“ und halte ihr das Bild aus dem Netto Online Shop unter die Nase.
„Na!“ antwortet sie so tief bayerisch wie resolut. „Die hamma net!“ Das klingt nicht nur danach, dass sie nicht mehr da ist, das klingt so, als hätte es sie nie gegeben.
Ich bedanke mich und mache mich auf dem Weg nach draußen. Frau Netto ruft mir plötzlich hinter her. „Da, schaung’s amoi!“
Sie steht an einem kopfplatzierten Regal mit Aktionsware und deutet auf ein Regalbrett. „Is dos net die Uhr, die wo’s sucha?“
In der Tat, das ist sie. „Da ham’s aber jetzt Glück g’habt!“ Das sehe ich genauso, das Regal hatte ich vorher gar nicht wahrgenommen. „Aktionsware“ – wer schaut denn schon bei sowas?
Flugs ist die Uhr gekauft, irgendein günstiges, vermutlich in Fernost gefertigtes Produkt. Nicht schön, nicht nachhaltig, aber darum geht es nicht. Sie muss ja nicht mir gefallen uns es steht mir nicht zu, darüber zu urteilen, was andere sich wünschen – und eine Alternative habe ich sowieso nicht. Ich kann ja schlecht einfach etwas anderes schenken oder zurück zum Heim fahren und unter den Augen der Bewohner:innen die Karte zurück hängen. Was für eine Bankrotterklärung wäre das bitte?
Teuer war die Uhr nicht. Lege ich noch ein paar Weihnachtspralinen dazu? Was, wenn die Empfängerin Diabetes hat? Aber ein kleiner Schokonikolaus, der soll es sein, dazu eine winterlich alpine Weihnachtskarte aus dem Atelier von Freund Alex und ein Packerl Batterien. Ohne die nämlich wird das nichts mit dem Gezwitscher der Vogelstimmen.
Tschilp, tschilp, tschilp, tschilp.
Frohe Weihnachtswünsche gehen raus an die Frau aus Zimmer xx im Altenheim in der Nachbargemeinde.
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Schöne Aktion – Spenden quasi „vor der Haustür“. Wo man weiß, dass es ankommt und nicht irgendwo versickert. Aber genau dieser Gedanke, was ist, wenn da was draufsteht, was man nicht leisten kann oder möchte, hält zum Beispiel mich von solchen Wunschbäumen ab. Das gestehe ich gern ein.
Schön. Mit einer kleinen Geste einen Menschen beglücken.