Mehr als Julia und Aida – Verona 2024
Die Weisheit, die Google Maps an den Tag legt, ist erstaunlich. In Verona habe ich das gerade erst getestet:
„Einfach nur bescheuert. Hunderte Menschen sehen sich kurz den Balkon an und fassen die Brüste von der Statue. Weiß nicht, was da so schön sein soll. Einfach nur lächerlich.“
Vielleicht ist das die mieseste, aber zumindest ist es eine grundehrliche Rezension, die Googlenutzer Ömer Yigit zur Casa die Giulietta in Verona hinterlassen hat. Und er spricht mir aus der Seele.
Die Tausende, die täglich dorthin kommen, um im Gedränge einen Blick auf den Balkon zu erhaschen, der angeblich Shakespeare zu seinem berühmten Drama inspiriert haben soll, stört dieses vernichtende Urteil nicht. Auch diejenigen nicht, die sich zur Bronzefigur vorschieben, um selbiger an die Brust zu tatschen. (Dazu als Lesempfehlung der Beitrag Julia und die Spuren).
Für diese Menschen sind die Grenzen zwischen Fiktion und Wirklichkeit längst aufgelöst. Das ist Julias Balkon, vollkommen wurscht, dass eine erfundene Figur wie Julia wohl kaum auf einem real existierenden Balkon hat stehen können. Die Leute wollen, dass es wahr ist, weil es so schön romantisch ist. Also ist es das auch. Wahr ist auch, dass die Kommerzialisierung von Romeo und Julia Dutzende von Souvenirgeschäfte ringsum am Leben hält. Irgendwer muss diesen ganzen Tinnef ja kaufen, sonst gäbe es den nicht. Und neben den Spezialgeschäften hat natürlich auch jeder andere Tabakladen, Standler auf dem Markt der Piazza Erbe, Museumshop oder Souvenirladen Julia-Devotionalien in Hülle und Fülle. Nun gut. Es wäre dumm, das Bedürfnis nach Souvenirs nicht mit einem entsprechenden Angebot zu bedienen.
Verona ohne die Casa di Giulietta ist sehr gut machbar, mögen andere das anders sehen. Man versäumt nicht wirklich was. Verona wäre theoretisch auch machbar ohne die Arena, die zweifelsfrei der zweite Mega Hot Spot in der Altsttadt ist. Aber es wäre nur halb so schön.
Lange Schlangen von Menschen, die tagsüber die Arena besichtigen wollen, bewegen sich quälend langsam zum Ticket Schalter.
In den Sommermonaten drängen abends Besucher:innen aus der ganzen Welt in das antike Gebäude, um dem Opernspektakel zuzuschauen. Wir nehmen uns da gar nicht aus. Für Aida sind wir extra gekommen. Muss man das mal gemacht haben? Nein, muss man nicht – aber man sollte. Es ist ein ganz besonderes Erlebnis.
Klanglich muss man zwar Abstriche gegenüber einer Aufführung in einem Opernhaus machen, aber niemand kommt hierher, um in den vollen akustischen Genuss einer Opernaufführung zu kommen. Weil ohne Mikro und Verstärker gesungen wird, verebben flache Stimmen irgendwo im Rund, Gesungenes hetzt dem Gespielten hinterher. Die Töne laufen unterschiedlich schnell zum Publikum, das ist halt so, denn die Arena wurde einst auch zu anderen Zwecken errichtet als für Opernfestspiele. Einst bot sie Platz für 30.000 Menschen. Heute finden dort im Parkett und auf den Rängen rund 15.000 Leute Platz. Eine gigantische Zahl, mehr als siebenmal so viel wie die Bayerische Staatsoper in München.
Um musikalisch akustische Präzision geht es in der Arena di Verona nicht wirklich. Es ist ein Event, eine bombastische Veranstaltung, die vom Bild lebt, von einer beeindruckenden Inszenierung mit riesigem Chor, Statisterie und Ballett, mit Light- und Lasershow und dem ganz großen Drumherum. Die Arena hat sicher viel Publikum dass sich Verdi, Puccini oder Rossini ansieht, aber wohl nie in ein normales Theater begeben würde. Und das ist gut so. Trotz gesalzener Eintrittspreise wird Oper sehr demokratisch und durchbricht Klassenschranken, sie ist nicht das exklusive Privileg einer bürgerlichen Bildungselite wie Bayreuth. Das ist hier mehr als deutlich zu spüren. Und schon deshalb haben sich der Besuch Veronas und der Arena gelohnt.
Neben theatererprobten Zuschauer:innen finden sich auch diejenigen ein, die unentwegt während der Aufführung tuscheln; diejenigen, die trotz mehrfach ausgesprochenem Verbot alle naselang Fotos machen; diejenigen, die nach dem letzten Ton sofort ohne Klatschen aufspringen und rausrennen, als seien sie im Kino oder Fußballstadion; diejenigen, die in der Pause gehen, weil sie lang genug durchgehalten haben; diejenigen, die an den falschen Stellen in die Musik hinein klatschen und diejenigen, die für alle Nachbar:innen unüberhörbar mitsingen oder den Triumphmarsch mitsummen. All das gehört auch dazu. Es würde was fehlen, wäre dem nicht so.
Zu unserem Veronabeduch kommt noch jede Menge „Bella Italia“ und „dolce far niente“. Denn wir bleiben länger, flanieren durch die Stadt und shoppen sehr italienisch, wir schlendern von Aperol Sprizz zu Gelati, von Latte Macchiato zu un caffe, von Ristorante zu Osteria. Sitzen und schauen. Manchmal reicht das aus.
Auch lassen wir uns per Aufzug auf den Torre de Lamberti fahren (ich zumindest, die anderen steigen die über 300 Stufen die Treppe hinauf) und per Standseilbahn hinauf zum Castel Pietro transportieren. Wir wandeln auf der uralten Brücke Ponte Pietro über die Etsch und bestaunen Andrea Mantegnas großartiges Altarbild in der Kirche St. Zeno Maggiore. Vornehmlich mittelalterliche und Renaissance-Kunst sehen wir im Museum des Castelvecchio. Verona hat so viel mehr zu bieten als Aida in der Arena und Julia. Hinfahren!
Die Arena di Verona wirbt mit dem Slogan „Der italienischste Ort der Welt“.
Vielleicht stimmt das sogar.
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Hab mit meiner damaligen Frau und den Kindern Julias Grab besichtigt, da lagen haufenweise Briefe drauf, angeblich von Frauen mit Liebeskummer, deren Schutzpatronin Julia ist.
Unbedint hinfahren 🙂
Ich habe zwei Jahre in Verona gelebt und mag die Stadt noch immer sehr. Irgendwann habe ich gelernt die Massen an Touristen auf dem Hin- und Heimweg zur Arbeit zu ignorieren. Und sehr schnell, diese Stadt zu lieben.